Der Tod: Deine Zeit ist abgelaufen. Ich komme, dich zu holen, mein Freund.
Der Sterbende: Ich habe dich erwartet und bin bereit.
Der Tod: Ich treffe nur selten jemanden, der nicht um eine Verlängerung seines Lebens kämpft und bereit ist mitzukommen.
Der Sterbende: Wenn du es so sagst, wird es so sein. Doch welchen Sinn hätte es, sich zu sträuben? Du hast gesagt, dass meine Zeit abgelaufen ist. Es wird das Beste sein, dir zu vertrauen.
Das macht das Unausweichliche leichter.
Der Tod: Hast du Wünsche, die deine Vergangenheit betreffen? Nicht, dass ich das Vergangene ändern könnte. Ich bin nur ein Instrument des Schicksals. Aber deine Antwort interessiert mich, weil du so gefasst bist.
Der Sterbende: Meine Vergangenheit ist nicht zu ändern. Aber Wünsche hat man bis zum Schluss. Ja, ich wünsche mir, dass meine besseren Eigenschaften in meinen Kindern fortleben und ich hoffe,
dass die Menschen mir verzeihen können, denen ich Unrecht getan
habe.
Der Tod: Ich habe viel gesehen und weiß aus Erfahrung, dass dein erster Wunsch nicht unmöglich ist, aber auch von den Willensentscheidungen deiner Kinder abhängt. Dein zweiter Wunsch wird teilweise in Erfüllung gehen; denn die Zeit schafft Distanz und gibt denen, die du gekränkt hast, die Möglichkeit über deine Motive und ihr eigenes Verhalten nachzudenken, sodass ihnen das, was du für Unrecht hältst, in einem milderen Licht erscheinen kann.
Der Sterbende: So will ich bis zuletzt hoffen und glauben, dass sich die
optimistische Seite deiner Antwort erfüllt.
Der Tod: Ich bin nicht befugt, dir zu sagen, was jetzt auf dich zukommt, weil meine Aufgabe nur darin besteht, dich in eine Anderswelt zu geleiten. Aber magst du mir auch mitteilen, welche Vorstellungen du von dieser anderen Welt hast?
Der Sterbende Warum nicht? Ich habe oft genug darüber nachgedacht. Ich erwarte, dass ich bald in einen tiefen, traumlosen, ewigen Schlaf versinke. Ganz sicher bin ich mir nicht, denn ich bin im Vergleich zum Universum nur ein
unermesslich winziges Staubkorn. Aber klügere Staubkörner als ich es bin, glauben oder schließen zumindest nicht aus, dass im Universum eine schönere Welt auf uns Menschen wartet als die, die ich jetzt verlasse. Du weißt: Sie nennen sie symbolisch Paradies. Und andere kluge Staubkörner halten es für möglich, dass wir in einer anderen Gestalt zu einem neuen Leben wiedergeboren werden. Ich glaube weder an das Paradies noch an diese Form des Weiterlebens. Aber ich lasse mich überraschen.
Nur eines erwarte ich mit Gewissheit nicht: irgendein Strafgericht mit anschließenden Höllenqualen. Deshalb
sterbe ich ruhig.
Der Tod: Ich danke dir für deine bereitwillige Auskunft, mein Freund. So nimm denn meine Hand. Ich werde dich behutsam führen.
Der Sterbende schließt die Augen und meint, der Tod habe gelächelt und ihm zugezwinkert.
© Ekkehart Mittelberg, Februar 2016