Der Lehrling des Alchimisten
Die schwere Holztür trennte Florian von dem Raum im Keller der preußischen Burg Grimnitz, der ihn am meisten interessierte. Es war das geheime Laboratorium. Doch nur wenn der königliche Leibmedicus und Alchimist mit seinem Herrn, dem Kurfürsten Johann Georg, auf der Burg weilte, wurde hier unten auch der Ofen angeheizt. Als jüngster Sohn des Waldhüters hatte er hier für das nötige Feuerholz zu sorgen. Ganze BERGE an Brennmaterial wurden benötigt. Was hier unten an Holzkohle und Holzscheiten verbraucht wurde, davon konnte ein ganzes Dorf einen Winter lang
die Hütten und den Herd heiß halten.
Zu gern würde er dem gnädigen Herrn Thurneysser bei der Arbeit zuschauen. Viel lieber noch, ihm als Gehilfe, als Lehrling zur Hand gehen. Doch in den Raum zu kommen, war nicht möglich. Immer wurde abgeschlossen. Nur durchs Fenster konnte er hinunter sehen.
Der Raum lag im Rot der Holzkohleglut, die beim BRAND entstand, wenn der Blasebalg gut getreten wurde. Der Meister mischte Sand und verschiedene Pulver miteinander. So machten es die Gesellen in der Glashütte am Waldrand auch. Aber hier geschahen andere Dinge. Hier flammte das Glas golden oder blau
auf, rote Schlangen ringelten sich um die Glaskolben. Und dann gab es noch diese geheimnisvolle Kugel.
Florian war gerade Zeuge dieses Kunststückes geworden.
Der Meister hatte eine riesengroße Glaskugel geblasen. So groß wie sein Kopf. Und er hatte aus Glas bunte Vögel geformt. Solche Vögel hatte Florian noch nie gesehen. Sie hatten bunte Flügel und Schwänze. Dann hatte der Meister die Figuren in FETTNÄPFCHEN getaucht und in die gläserne Kugel gelegt. Nun füllte er eine Flüssigkeit hinein und siehe da, die Vögel schwammen oder besser schwebten darin. Ebenso wurde eine Wolke aus weißem Glas hinein gesetzt.
Auch sie schwebte nun in der farblosen Flüssigkeit. Mit einem Klecks heißem Glas verschloss der Magier die Kugel und konnte sie nun bewegen und die Vögel zwischen der weißen Wolke schweben lassen. Welch Wunder!
Der kleine Florian ging wie im Traum und voller Sehnsucht hinüber zum Eingang der Glashütte, die auf der anderen Seite der Burg lag, wo sein Vater und seine beiden Brüder gerade Holz abluden.
„Vater, gebt mich in die Glashütte zur Lehre“, bat er den Vater.
„Ich möchte so gern lernen wie man Glaskugeln macht.“
„Wer da Lehrling wird, entscheidet einzig der Herr der Glashütte, Leonhard
Thurneysser. Wie soll ich ihn darum bitten, mein Sohn? Wir sind viel zu geringen Standes, als dass ich das Wort an ihn richten dürfte. Auch kann ich kein Lehrgeld bezahlen."
Er schaute seinen Jüngsten liebevoll und doch traurig an.
"Bescheide dich. Du wirst mit deinen Brüdern im Holz dein Auskommen finden und ich will dich das Köhlerhandwerk lehren.“
„Vater, ich möchte aber Glas machen lernen, ich möchte wissen, warum es mal fließt und mal sich zur Kugel blasen lässt und warum darin Wasser sich hält und Vögel schwimmen können!“, widersprach der Knabe halb bittend halb trotzig
auftrumpfend.
In dem Moment spürte der Knabe, wie sein Ohr kräftig gepackt und in die Länge gezogen wurde. Er schrie auf und hob den Blick. Aufmerksam geworden, drehte sich auch der Vater zu seinem Sohn hin, nachdem er das Bündel Holz sorgsam in den Schuppen gestapelt hatte. Der Herr Thurneysser war auf dem Weg zur Glashütte und hatte dem Sohn –Vatergespräch wohl schon eine Weile zugehört.
„Woher Knabe weißt du von Glaskugeln und Vögeln darin?“ fragte er ihn barsch. Der Vater erblasste und fiel vor dem hohen Herrn auf die Knie, um Vergebung für seinen Sohn bittend. Florian fühlte sich
ertappt, sein Gesicht glühte rot.
Schon stellte er sich vor, wie der Herr oder der Vater ihn mit einer LATTEzüchtigen würde. Er musste schnell mit der Wahrheit heraus, das war das Einzige, was ihm noch helfen konnte – so überlegte er. Er fühlte die Hand an seinem Ohr sich lockern, drehte sich zu dem immer noch im MORGENROCK gekleideten Herrn und verbeugte sich. „Herr, ich brachte in der Früh euer Holz. Durchs Fenster sah ich, wie ihr den Ofen heiztet und aus Sand und Pulver endlich die Kugel und die Figuren formtet. Schon lange habe ich den Wunsch, nicht Köhler zu werden, sondern euch als Lehrling oder Gehilfe zu Diensten zu sein. In der
Glashütte möchte ich mein Handwerk lernen und von euch die Gestaltung der Wunder.“
Der königliche Glashüttenleiter und Medicus schaute sich den Jungen an, drehte ihn einmal herum und sprach zu ihm: „Wenn ich dich nehme, wirst du mit mir reisen müssen, darfst keinem vom dem erzählen, was ich dich lehre und bist zehn Jahre an diesen Vertrag gebunden. Wenn dein Vater dich also hergibt und du das gelobst, werde ich dich alles lehren, was du wissen willst und musst.“
Florian wandte sich an den Vater und sank nun vor ihm auf die Knie.
„Vater, gebt mich frei. Euch bleiben ja noch meine zwei Brüder für das
Holzgeschäft. Hier kann ich endlich all das lernen, was mir sonst nicht möglich wäre. Und wenn ich nach der Lehre frei gesprochen werde, komme ich zurück zu euch.“
Der Vater liebte seinen jüngsten Sohn sehr. Er freute sich über die Möglichkeit, die sich da plötzlich auftat und er wusste, eine zweite Chance würde es nicht geben. Also nickte er seinem Sohn, Freude glänzte ihm in den Augen und er wandte sich an den zukünftigen Meister seines Sohnes: „Ich übergebe euch meinen jüngsten Sohn voller Vertrauen, Freude und Dankbarkeit.“
„Pack dein Bündel, zu Mittag reisen wir ab!“, befahl Thurneysser dem Knaben und
eilte Richtung Glashütte davon.
Jahrzehnte später, als reifer Mann, kehrte Florian nach Grimnitz zurück. Seine Eltern waren inzwischen gestorben. Er wollte nicht lange bleiben, nur seinen Besitz ordnen. Eines Morgens, vor der Abreise, schleppte er seine Schatulle auf den Dachboden seines Elternhaus. Alle seine Schätze, ja sein ganzes Leben barg sie. Er hatte in sie zum Beispiel ebenso eine Glaskugel verborgen, die er seinen Meister eine herstellen sah an dem Tag, da er durch dessen Kellerfenster lugte. Sie war sein Meisterstück. In der Schatulle waren auch orientalische Gewänder, die er auf einem Basar in Teheran kaufte und selbst auch trug, als er
im Palast des Schahs arbeitete.
Und es gab ein spezielles Rezept für seine Glasbläserei, das er irgendwann einmal ausprobieren wollte. Als er in Teheran weilte, und beim Schah von Persien als Leiter der Glashütte diente, hatte ihn am meisten gestört, dass es dort keinen Winter gab. Wie gerne würde er doch einen Schneesturm erleben. Die Kälte des Winters spüren. So wollte er eine kleine Landschaftskugel konstruieren und hinein die Berge und Tannen seiner Heimat stellen. Wenn sie mit Wasser und mit kleinen Silberflocken gefüllt war, sollte sie fest verschlossen werden. Und wenn man die verschlossene Kugel schütteln würde, schneite es ganz sanft.
Seine Vision, sein Traum war eine Wetterkugel, ja er wollte eine SCHNEEKUGEL erschaffen.
Aber leider, soviel Glück er bisher auch hatte, es krachte kräftig im Dachgebälk des alten Hauses. Das hatte wohl gerade noch auf ihn gewartet, mehr Kraft schien das alte Gebälk nicht aufbringen zu können. Das Wanken und Krachen fühlte sich für ihn an wie ein MENETEKEL, als er seine Schätze dort niederlegte. Auch seine alten Knochen hatten ihm bereits solche Botschaften gesandt. Rasch schickte er sich an, den Dachboden zu verlassen. Florian wollte sich noch über die Leiter nach unten retten, doch so morsch und alt wie sie war, trug sie das
Gewicht des rundlichen kräftigen Herrn nicht mehr. Er stürzte in die Tiefe und ein Teil der Bodenbalken folgte ihm und begrub ihn.
Die Nachbarn, die durch den Lärm aufmerksam geworden waren und der herbeigerufene Arzt konnten nur noch den Tod des Weitgereisten feststellen, der wohl zum Sterben nach Hause gekommen war. Welch ein MORGENSCHOCK.
Lange stand das Waldhüterhaus leer. Die Reparatur hätte zu viel Geld gekostet. Generationen lebten teils im Ausland, teils irgendwo in deutschen Landen.
Erst ein paar hundert Jahre später trat ein junger Mann das Erbe an. Er wollte hier
ein Kaffehaus und eine Bäckerei einrichten.
Fast wäre das alte Gebäude abgerissen wurden.Doch sorgsam barg er Schicht für Schicht seines ererbten Familienstammsitzes. Und so kam er auch an die Schatulle seines Urahns, die ihren Schatz behütet hatte. Als der zukünftige Zuckerbäcker seinen Fund so betrachtete, musste er zunächst auflachen. Wie Reste eines KOSTÜMVERLEIHS leuchteten ihm die bunten Stoffe entgegen. Doch bei genauerem Hinschauen begriff er, was ihn da anstrahlte. Und nach dem Sichten der Dokumente und all der wundervollen Dinge wurde ihm sehr warm ums Herz und er schluckte. "Ja, das ist ein Erbe, ein
Schatz, ein Märchen!“, sagte er sich immer wieder.
Zur Eröffnung seines Kaffes „Zum Glasbläser“ war er der erste, der eine Schneekugel aus Zucker blies. Diese widmete er seinem berühmten Vorfahren.