Auszug aus Kapitel 7     -    Nachtschwärmer
Onkel Paul sitzt wartend auf seinem Schaukelstuhl auf der Veranda. Eine sichtliche Erleichterung durchzieht seinen Oberkörper als er uns kommen sieht.
Offenbar scheint es ziemlich spät zu sein, denn als er den Blick auf seine Armbanduhr richtet, schüttelt er ungläubig den Kopf.
„Na, ihr Nachtschwärmer…“, schmunzelt er und bestaunt seine Mayland nebst Garderobe. „Wer ist denn diese junge Frau, die du da mitgebracht hast, Emy“, wendet er sich an mich und kneift eine
Auge zu.
Noch bevor ich etwas sagen kann, winkt Tante Mayland ab und antwortet persönlich auf seine Frage. „Dein holdes Weib … in Abenteuerlaune“, feixt sie. „Wenn du so lieb bist und vielleicht ein kleines Fläschchen aus dem Keller holen würdest, dann werde ich dir berichten.“
AmĂĽsiert beobachte ich die Beiden und dennoch suchen meine Augen verstohlen nach Jason. Ich kann ihn nicht entdecken.
Während sich Tante Mayland zufrieden auf ihrem Rattan-Sofa niederlässt, erhebt sich Onkel Paul um ihrem Wunsch nachzukommen.
„Jason ist nach Hause gefahren“, sagt er
zu mir im Vorbeigehen und verschwindet im Haus.
Unentschlossen trete ich von einem Bein auf das andere.
„Du kannst noch bleiben“, schlägt mir Tante Mayland vor. „Setz dich doch zu mir.“ Sie lächelt, versteht aber auch mein Zögern. „Oder du gehst zu ihm. Er wird sicher noch nicht zu Bett gegangen sein.“
„Mh“, hauche ich zaghaft.
Sie nickt befĂĽrwortend und schickt mich mit einer winkenden Handbewegung fort.
Ich hätte sie eigentlich gern noch einmal umarmt, doch derlei Intimitäten hatten wir wohl, ihrer Meinung nach, für heute genug.
Das „Gute Nacht“, kommt daher ein wenig traurig aus meinem Mund. „Wir kommen morgen zu dir in die Kemenate“, verspreche ich aber noch und verlasse die Veranda.
In der Auffahrt drehe ich mich noch einmal um.
Onkel Paul ist zurĂĽckgekehrt und sitzt neben ihr auf dem Sofa. Er hat seinen Arm um ihre Schulter gelegt und lauscht wahrscheinlich gerade gespannt ihren Worten.
Bei den Millers ist das Haus noch hell erleuchtet. Nur Jasons kleines Mansardenfenster nicht. Ist er vielleicht
doch schon schlafen gegangen?
Als ich allerdings um die Hausecke biege, sehe ich ihn im Schuppen bei seinem Moped hocken. Er schmeißt gerade wütend einen Schraubenschlüssel gegen die Wand, der mit viel Krach, scheppernd zu Boden fällt. Beinahe hätte er damit die kleine Blechlampe unterm Schuppendach erwischt, doch nun schaukelt sie nur quietschend hin und her, wie das Blechschild an einer texanischen Tankstelle. Ihr schummriges Licht wirft allerdings seltsam wackelnde Schattenbilder über Jason und taucht den kleinen Schuppen somit in eine merkwürdige Atmosphäre.
Sogleich spüre ich mehrere Erklärungen
für diese eigenartige Stimmung in mir aufkommen. War es das Gespräch mit Onkel Paul? Mein eigensinniger Ausflug mit Tante Mayland in die Hütte? Ärger mit seinem Moped?
Am plausibelsten erscheint mir im Moment mein ungefragter Abstecher in die HĂĽtte ohne ihn zu fragen.
Mit einem mulmigen GefĂĽhl im Bauch gehe ich auf Jason zu.
Mein Gefühl bestätigend, dreht er mir den Rücken zu und bückt sich nach dem Schraubenschlüssel. Er schnieft und schnauft wie ein aufgebrachtes Walross und hat keinen Blick für mich.
„Es tut mir leid, dass wir ohne dich in die Hütte gegangen sind. Aber Tante
Mayland konnte es nicht abwarten“, sage ich entschuldigend und fühle mich augenblicklich schlecht.
Er wischt sich mit dem Ärmel seines alten Werkstatthemdes über seine Nase und schiebt sich das Basecap, was er heute seltsamerweise wieder einmal trägt, noch tiefer in die Stirn und kramt geschäftig auf seiner Werkbank herum.
Kein Wort. Keine Willkommensgeste.
„Es hat uns niemand gesehen“, erkläre ich weiter in der Hoffnung, ihn damit besänftigen zu können, damit er wieder mit mir redet.
GleichgĂĽltig hebt er die Achseln.
Ich trete neben ihn und lege meine Hand auf seine Schulter.
Er zuckt bei meiner Berührung kurz auf, um sich im nächsten Moment wieder steif und abwesend seinen Mopedteilen zu widmen.
Ich will ihn ansehen, doch er wendet sich ab.
„Ich muss das noch reparieren, sonst kann ich morgen nicht fahren“, sagt er mit einer Kühle in der Stimme, die mich erschreckt.
„Es tut mir leid, Jason“, bitte ich erneut und bekomme wieder nur ein Achselzucken.
Nun traue ich mich ihm erst recht nicht von den Zeitungen in der Truhe zu erzählen. Was soll ich nur tun? Dass er derart sauer reagiert, hätte ich nicht
erwartet.
„Ich muss für ein paar Tage weg“, sagt er gequält und schluckt dabei schwer.
Sofort schießt mir sein Prüfungstermin in den Kopf. „Und dein Vortanzen am Sonntag?“, sage ich erschrocken. Und dann steigt noch ein anderes, viel quälenderes Gefühl in mir auf. Die Tatsache, dass wir uns nicht sehen werden. „Oh…“, seufze ich leise.
„Bleib von der Hütte fern…und… “, beginnt er streng und hält inne. Vielleicht ist er sich seines Tonfalls bewusst geworden oder er überlegt den Rest des Satzes.
Also hatte ich Recht. Es ist der Ausflug in die HĂĽtte, der ihm so zu schaffen
macht. „Es tut mir sehr leid“, sage ich sehr deutlich und langsam und überlege wie ich mich noch bei ihm entschuldigen könnte.
„Schon gut“, antwortet er kurz. Seinen Satz setzt er nicht fort. Er nimmt eine Feile und fährt mit zittrigen Fingern über den Zylinder.
„Dann schneidere ich deine Schuhe fertig?“, frage ich vorsichtig, in der Hoffnung, dass er seinen Termin einhält und versuche ihm abermals ins Gesicht zu sehen.
„Wie du willst“, sagt er gelangweilt und dreht sich um. Meine Hand entgleitet seiner Schulter in Zeitlupe und ich schaue ihm verblüfft hinterher, wie er
sich vors Moped kniet. Nun verdeckt das Schild seiner Mütze Jasons Gesicht gänzlich.
„Wieso bist du so sehr sauer auf mich?“, frage ich gekränkt und mache einen Schmollmund, den er allerdings nicht sieht.
„Bin ich nicht.“
„Was ist es dann?“
„Nichts.“
Plötzlich wird es hell auf dem Hof.
Eine Tür fällt ins Schloss und kurz darauf erscheint der bullige Körper von Jasons Vater in der Schuppentür.
„Ach, sieh da, die kleine Clayton“, brummt er und steckt seine zur Faust geballten Hände schnell in die Taschen
seiner abgewetzten Jeans.
„Emy“, korrigiert Jason seinen Vater.
Ein süffisantes Grinsen ist Mr. Millers einzige Reaktion. Dennoch wirkt er, mit den bis in die Mitte seiner Oberarme aufgerollten Hemdsärmel, bedrohlich auf mich wie ein kanadischer Holzfäller, der vor einem Grizzly steht.
„Guten Abend Mr. Miller“, grüße ich freundlich und überlege, was er wohl vor gehabt hätte, wenn ich jetzt nicht hier gewesen wär.
Etwas entspannter, jedoch deutliche Überlegenheit demonstrierend fährt er mit beiden Daumen unter seine Hosenträger. „Farwell hat sich gemeldet. Wir fahren morgen früh fünf Uhr“, sagt
er streng in Jasons Richtung ohne das ein Fünkchen Widerrede aufkommen könnte.
„Ich habe Ferien“, murmelt Jason vor sich hin und zieht automatisch den Kopf dabei ein.
„In der Hütte wohl…Ferien?“, sagt Mr. Miller wütend und die Adern auf seinen Handrücken treten deutlich hervor. „Ich hatte auch nie Ferien.“
Stumm vor Entsetzen schaue ich auf Jason.
„Fünf Uhr“, stöhnt er abwesend und nickt.
„Die Sache mit der Hütte erledige ich später“, ergänzt sein Vater. Er wendet sich um und geht zurück ins Haus, jedoch nicht, ohne mir ebenfalls einen
feurig, strengen Blick zuzuwerfen.
Mit Wirkung. Ich bleibe eingeschĂĽchtert und erstarrt an Jasons Werkbank kleben.
„Geh jetzt, Emy. Es ist besser so“, bittet mich Jason höflich und in seiner Stimme liegt Angst, aber auch Scham. Diese Situation ist ihm deutlich peinlich.
„Wie hat er es herausgefunden?“, frage ich immer noch voller Entsetzen. Ohne eine Information dazu könnte ich jetzt unmöglich nach Hause gehen. „Und was wird er später erledigen?“
Ich trete ans Moped und berĂĽhre Jason erneut an seiner Schulter. Er schĂĽttelt mich ab und hebt nicht einmal den Kopf.
Und anstatt einer Antwort zuckt er abermals mit den Schultern. „Geh jetzt.
Bitte“, jammert er.
FĂĽr ein Weilchen bleibe ich noch neben ihm stehen. Wartend auf irgendeinen Hinweis, was vorgefallen ist. Doch auĂźer dem blechernen Geklapper von Jasons Werkzeugen bleibt es still zwischen uns.
„Es tut mir leid, Jason“, sage ich und will mich abwenden. Ich höre mich jetzt genauso jammervoll an wie er. Allein in die Hütte zu gehen war vielleicht ein Fehler, doch eine derartige Reaktion von ihm finde ich nicht angemessen. Ich fühle mich schuldig, traurig und bin in Sorge um die Hütte. Doch wieder einmal scheint Jason im Moment noch nicht mit mir darüber reden zu wollen.
Ich mache einen Schritt in Richtung
Ausgang, da greift er nach meiner Hand.
„Ich bin bis Sonntag zurück“, sagt er leise ohne mich anzusehen.
Es klingt zwar nicht überzeugend, dennoch löst es in mir eine kleine Erleichterung aus. Also hat er doch vor, am Sonntag zur Prüfung zu gehen. Und egal was vielleicht mit der Hütte passiert, wenn Jason die Prüfung bestanden hat, brauchen wir die Hütte ja sowieso nicht mehr. Sicher wäre es schade wegen den Erinnerungen und unserem geheimen Ort, aber das war es auch. Was gefunden werden sollte, ist geschehen.
Vielleicht sollte ich aber bevor Jason und sein Vater zurĂĽckkommen die
Zeitungen noch aus der Truhe sicherstellen. AuĂźerdem war es auch gut, dass Tante Mayland heute Abend ihre Neugier bereits stillen konnte.
Froh über diese versöhnlichen Gedanken und das wunderschöne Gefühl, seine warme Hand zu spüren, drehe ich mich zu ihm zurück. Ich knie mich neben ihn und falle ihm um den Hals.
Ein eigenartiges Zischen entfährt seinem Mund und ein leichtes Zucken durchzieht abermals seinen Oberkörper.
Ich will ihn unbedingt kĂĽssen.
Er scheint meine Absicht zu ahnen und versucht mich sacht von sich wegzudrĂĽcken. Doch meine Lippen suchen bereits seinen Mund.
Eine eigenartige Kruste mit einem metallisch-süßen Geschmack auf seiner Oberlippe lässt mich abrupt inne halten.
Erschrocken und ĂĽberrumpelt sitzt er regungslos vor mir.
„Jason“, rufe ich entsetzt und schiebe ihm sacht das Basecap vom Kopf.
Geknickt gibt er seinen Widerstand auf.
Ich nehme seinen Kopf in meine Hände und erkenne unmittelbar Jasons wahre Tragödie.
Sein wunderschönes Gesicht ist völlig entstellt. Seine Oberlippe ist dick geschwollen und teilweise mit bereits halb getrockneten Blutkrusten überzogen. Darüber hinaus zieht eine breite Schürfwunde von seinem rechten
Wangenknochen über die Augenbraue, zur Schläfe bis zum Haaransatz über seinem Ohr.
„Oh nein, Jason“, stöhne ich und will ihn an mein Herz drücken.
Da erschauert er erneut.
„Bist du hier auch verletzt?“, frage ich verwirrt und lasse ihn los.
„Ich weiß nicht“, stammelt er. „Aber es tut weh.“
„Was ist passiert?“, erkundige ich mich, obwohl mir so langsam dämmert, was heute Abend hier geschehen sein könnte. Voller Mitgefühl hauche ich Jason sanfte Küsse auf seine unverletzte Wange und er lässt es geschehen.
Dann senkt er wieder seinen Kopf und
lehnt ihn vorsichtig an meine Brust. Mit einem tiefen Seufzer entweicht augenblicklich alle Anspannung aus seinem Körper.
Tief berĂĽhrt streiche ich ihm wie eine beschĂĽtzende Mutter ĂĽber den RĂĽcken.
„Ich bin ausgerutscht“, sagt er nach einer Weile.
„Ach, hör doch auf Jason.“ Das nehme ich ihm nicht ab.
„Wirklich“, entgegnet er mir. „Ich wollte Dads Schlag ausweichen…und bin gegen unsere Natursteinmauer… in der Küche geprallt und dort entlanggeschürft…“
Schon bei seinen Worten schmerzt mein Gesicht und ich ziehe scharf die Luft zwischen meinen Zähnen durch. „Mh, das
tut weh“, sage ich mit schmerzverzerrtem Mund.
„Er hat herausgefunden, dass ich in die Hütte fahre und dort viel Zeit verbringe“, erzählt Jason langsam.
„Woher?“, frage ich aufgebracht.
„Ich weiß es nicht. Vielleicht hat Mom sich verplaudert…aber ich wollte sie nicht danach fragen. Wenn es so ist, hat sie es sicher nicht absichtlich getan. Sie hat es schon schwer genug. Und eigentlich ist es auch egal. Er weiß es. Punkt. Wie du immer sagst.“
Wir mĂĽssen beide ein wenig schmunzeln.
„Was hat er zu dir gesagt?“
„Ich bin mir nicht sicher, wieviel er über diese alten Hüttengeschichten weiß.
Doch er hat mir verboten sie je wieder zu betreten“, seufzt er. „Ich glaube er weiß nichts von meinen Tanzstunden. Hält es wohl eher für unser Liebesnest.“ Jason versucht ein Grinsen, doch seine geschwollene Lippe verhindert es. Es gelingt ihm nicht, die Mundwinkel nach oben zu ziehen.
„So nannte er es“, erklärt er mir mit starrer Miene.
Daher also dieser eiskalte Blick von Mr. Miller, erinnere ich mich. UnwillkĂĽrlich schaue ich auf den Hof.
„Ich habe keine Ahnung, was er mit der Hütte vor hat“, sagt Jason enttäuscht. „Aber sicher nichts Gutes.“
Das sind auch meine Gedanken und mir
kommt eine Idee.
„Dann sollten wir alles, was an Fotos und Zeitungen noch drin ist, herausholen…bevor es zu spät sein könnte“, schlage ich vor. „Dann bleibt dein Tanzgeheimnis vielleicht bewahrt und am Sonntag ist ja sowieso alles geschafft“, sage ich völlig überzeugt.
Ein lächelnder Mund gelingt ihm nicht, doch ich sehe die Freude in seinen Augen. Am liebsten würde ich ihn jetzt ganz überschwänglich umarmen und küssen, doch ich halte mich zurück und nur der Hauch von einem Kuss berührt seinen Mund.
„Oh Emy. Das tut so gut“, säuselt er mit seinen dicken Lippen.
„Doch dich jetzt die nächsten Tage nicht sehen zu können…wird schwer für mich…sehr schwer.“ Er versucht mich so gut es geht an sich zu drücken.
„Mir auch“, gebe ich offen zu und die Ähnlichkeit zu Carlotta und Richards Schicksal wird immer deutlicher. Sie hatten ebenfalls viele Trennungen und haben es überstanden.
„Carlotta und Richard waren auch manchmal getrennt“, sage ich zu Jason, doch den nächsten Gedanken halte ich unausgesprochen zurück. Richards Unfall. Jasons momentaner Zustand. Diese Übereinstimmung kann doch nicht nur Zufall sein?
Wie kommen wir nur glĂĽcklich aus dieser
alten Familienkiste, frage ich mich. Alles scheint sich fast identisch zu wiederholen.
„Wir sollten uns unserem Schicksal ergeben. Vielleicht können wir dann wenigstens zusammenbleiben“, überlegt Jason laut.
„Du meinst, du willst Schlosser werden?“, frage ich aufgeregt.
Ich spĂĽre ihn einen tiefen Atemzug nehmen und dann sein Nicken.
„Nein Jason. Das ist nicht dein Schicksal. Dann verhältst du dich genauso wie dein Urgroßvater.“
„Was dann?“, sagt er ratlos, steht auf und räumt die Werkzeuge zusammen.
Ich folge ihm und sehe ihm streng in die
Augen.
„Du wirst Tänzer und wir werden zusammen sein“, sage ich vollkommen ernst. „Aber vielleicht sollten wir dazu zusammen von hier weggehen.“ Die Entschlossenheit in meiner Stimme ist verpufft wie ein Wassertropfen auf einer heißen Herdplatte. Mir fällt die Federngeschichte aus der Aula ein und Tante Maylands Übersetzung. Gleichzeitig macht sich bei diesem Gedanken ein schreckliches Gefühl in meiner Brust breit. Ein unsagbarer Abschiedsschmerz von Sunville.
„Wo steht eigentlich geschrieben, dass das unser richtiges Schicksal ist“, fragt Jason mürrisch.
„Nirgends“, antworte ich kleinlaut. Aber ich versuche ruhig zu bleiben und fahre fort. „Doch alles andere wäre die Wiederholung der alten Geschichten“, erkläre ich ihm. Meine Stimme zittert und ich bin den Tränen nahe. „…und … merkst du es nicht? Wir sind doch schon mitten drin.“
Jason wischt mit seinem Hemdzipfel meine Tränen von der Wange. Dabei steigt mir der Geruch seiner ölbeschmierten Finger in die Nase. Das macht es mir gerade sehr schwer, mir vorzustellen, wie es wäre nicht mehr hier zu sein. In diesem Schuppen, der Werkstatt, das Summer Anwesen, der Dachboden, der See…
„Nicht weinen, Emy“, sagt er mit kehliger Stimme und versucht einen zaghaften Kuss.
Mit der Berührung seiner verletzten Lippe brechen alle Dämme in mir zusammen und eine endlose Leere breitet sich aus. Keinen Plan, keine Idee, keine Gewissheit von irgendwas. Ich hänge in einem Zustand jenseits von Zeit und Raum. Es gibt keine Vergangenheit, keine Zukunft. Mein Ich ist das einzig Vorhandene. Dort gibt es auch keine Engel, keinen Dad, keinen Gott. Niemand der eine Richtung angibt, weil es weder oben noch unten, weder rechts noch links gibt, kein vor oder zurück. Ich bin einfach da. Und da wo ich bin, bin ich
richtig. Dort habe ich auch keine Augen, keine Ohren, keine Haut. Es gibt nichts, was es mit irgendeinem Sinn zu erfassen gäbe. Weil es keine Unterschiede gibt. Hell kann ich nur erkennen durch dunkel, kalt durch warm, laut durch leise. Dies alles gibt es nicht und doch ist alles vorhanden. In einer so unendlichen Fülle, die weit meine Grenzen des Erfassens überschreitet. Und dann werde ich ihr gewahr, habe eine Verbindung, ein Wort dafür: LIEBE
Liebe in allen Zuständen meines Seins, meiner Verbindungen zu mir und nach außen. Fortwährend und immer dar.
Und weil es keinen Weg gibt, gibt es auch keinen falschen Weg. Ă„uĂźere oder
auch innere Umstände erfordern Entscheidungen, eine Wahl zu treffen. Leben heißt Entscheidungen treffen. Wähle und entscheide ich mich für die Liebe im Herzen, werde ich alles erschaffen, was mir gut tut. Während Entscheidungen aus dem Verstand Vorschriften und Regeln folgen, die andere Ergebnisse zur Folge haben. Das ist das einzige Gesetz. Ein Unumstößliches, Ewigliches für Mensch und Tier.
Unmittelbar erfĂĽllt mich eine groĂźe Stille und Zufriedenheit. Eigenartig, denke ich, in Anbetracht unserer derzeitigen Situation.
„Lass uns noch die Hütte leer räumen,
bevor ich morgen weg bin“, höre ich Jason murmeln und öffne die Augen. Trotz seines entstellten Gesichtes begegne ich einem liebevollen Blick. „Das war eine gute Idee von dir.“
Diese Worte machen es mir noch leichter. Ich nicke und schnäuze mir befreit die Nase.
Jason löscht das Licht im Schuppen und schließt hinter uns die Tür.
„Fahren wir nicht mit dem Moped?“, frage ich ein wenig enttäuscht und schaue, als könnte ich den Blick seines Vaters damit verdrängen, noch einmal gebannt in Richtung Haustür. Dort ist es jetzt ganz still. Alles dunkel. Trügerisch friedliche Ruhe, finde ich.
Jason schüttelt den Kopf. „So hört uns mein Dad nicht.“
Ich verstehe und so schlendere ich ein weiteres Mal durch menschenleere StraĂźen unserer Kleinstadt und den Wiesenweg. Mit Jason an meiner Seite muss ich mir keine Gedanken machen, ob wir den Weg auch ohne eine Taschenlampe finden. Er kennt sich ja bestens aus.
„Was hat eigentlich deine Tante zur Hütte gesagt?“, fragt er nach einer Weile verträumt.
„Sie war sehr ergriffen. Hat ebenfalls Carlottas Energie gespürt. Sie ist sich sicher, dass die Beiden in der Hütte waren“, erzähle ich Jason von unserem
Ausflug. „Ich dachte vorhin, du seist mir deswegen böse.“
Schmollend schaue ich ihn an.
„Wie könnte ich dir böse sein“, antwortet er und streicht über meinen Mund. „Und wegen der Hütte schon gar nicht. Es ist doch unser gemeinsamer Ort.“
Ein sorgenvoller Blick huscht über sein Gesicht. „Ich wollte nicht, dass du mich so siehst.“ Jason zeigt mit den Fingern auf die Schürfwunden in seinem Gesicht und senkt verschämt den Kopf. „Ein achtzehn jähriger Junge, der…“
„Scht“, unterbreche ich ihn und streiche über sein Haar. „Du willst eben keinen Ärger. Du bist…einfach zu gut für diese Welt.“
Sichtlich erleichtert, den Vorfall nicht weiter erklären zu müssen, nickt er nur stumm.
Wie ein Emblem thront der Mond noch immer erhaben über der alten Kate. Es scheint gerade so, als wäre er am Dach befestigt. Die Wolken von vorhin haben sich verzogen und sein helles Licht leuchtet wie eine Straßenlaterne auf uns herab.
Während ich magnetisiert wie eine Wölfin auf den Mond starre, holt Jason den Schlüssel aus unserem Versteck und geht zur Tür.
„Emy“, ruft er erschrocken.
Die Tür ist angelehnt. Das Schloss völlig kaputt. Tiefe Furchen im Holz des Türrahmens und am Türblatt. Es sieht aus, als hätte jemand mit einem Stemmeisen die Tür aufgebrochen.
Schnell ist Jason drinnen und zĂĽndet eine Ă–llampe an.
Entsetzt laufe ich ihm hinterher. „Was ist…?“ mehr bekomme ich nicht über die Lippen.
Fassungslos stehen wir vor der Katastrophe und mir wird sofort klar, was Mr. Miller mit seiner Drohung Die Sache mit der Hütte erledige ich später meinte.
FĂĽr mich steht fest, dass er es war. Doch wann ist er hier gewesen? Die Gedanken
kreiseln in meinem Kopf, doch ergeben keinen zusammenhängenden Sinn. Tante Mayland und ich sind niemandem begegnet und haben auch niemanden bemerkt.
Vielleicht war er schon vor uns da und hat so lange gewartet, bis wir wieder gegangen sind. Vielleicht haben wir seine Pläne kurzzeitig unterbrochen. Die Vorstellung, dass uns jemand die ganze Zeit beobachtet hat, gruselt mich. Gänsehaut läuft mir den Rücken hinunter.
Ich schĂĽttele mich.
Die Zeitungen und Poster liegen, von der Wand heruntergerissen, zerfetzt und wild verstreut auf dem FuĂźboden herum. Den
Kassettenrecorder hat man in die Ecke geschmissen, das Band aus der Kassette wurde herausgezogen und zerknittert.
Schockiert lässt sich Jason auf dem Boden nieder. „Er muss kurz nach euch hier gewesen sein“, ist auch Jasons Überlegung. „Er kam kurz nach Mitternacht nach Hause und hat diesen Streit mit mir begonnen“, rechnet Jason die Tatzeit nach. „Und danach bist du ja bald gekommen. Vielleicht war er sogar die ganze Zeit neben euch.“ Auch ihm missfällt dieser Gedanke und er schüttelt sich wie ein nasser Hund.
Da die Truhe noch verschlossen an ihrem angestanden Platz steht, habe ich Hoffnung den Inhalt noch unberĂĽhrt
vorzufinden. Ich stürze in die Ecke und öffne den Deckel.
Erleichtert finde ich alles so vor, wie ich es vor ein paar Stunden zurĂĽckgelassen habe.
Das kleine BĂĽndel alter Zeitungen ist unversehrt.
Ich nehme sie heraus und bringe sie Jason. Er versucht gerade verzweifelt die Schnipsel eines alten Fotos wie ein Puzzle wieder zusammenzusetzen. Er ist bemüht sich zusammen zu reißen, doch in seinen Augen flackert eine unheimliche Wut und sein Gesicht hat eine deutliche Röte angenommen.
„Da sind keine Fotos von Carlotta oder Richard drin“, sagt er enttäuscht, als ich
ihm die Zeitungen zeige.
„Ja, das glaube ich auch“, pflichte ich ihm bei. „Aber dennoch hat sie dein Urgroßvater aufbewahrt. Es wird sicher etwas Wichtiges drin stehen.“
Jason horcht auf.
„Auf diese Idee bin ich gerade vorhin mit Tante Mayland gekommen. Doch ich wollte es mit dir gemeinsam herausfinden. Ich habe noch nicht hineingeschaut.“
„Da haben wir ja Glück, dass sie noch da sind“, stellt Jason ironisch fest.
„Du weißt, ich lüge nicht gern oder schnüffle irgendwo herum“, sage ich gekränkt. „Ich war mir schon unsicher genug, allein mit Tante Mayland hierher
gegangen zu sein…ohne dich.“
„Ja, ich weiß“, seufzt er. „Tut mir leid Emy.“ Seine Stimme klingt wieder versöhnlicher und auch ein wenig Neugier ist zu hören.
„Lass mal sehen.“ Jason faltet die oberste Zeitung auseinander.
Es war das Titelblatt des örtlichen SUNVILLE-Wochenblattes. In den Schlagzeilen stand damals die Eröffnung eines neuen Theaters in Hangar The White Horses, dessen finanzieller Wohltäter wohl ein anonym bleibender Bürger von Sunville sein sollte. In dem zugehörigen Artikel wurden die sonderbarsten Spekulationen über alle in Frage kommenden Einwohner angestellt.
Doch letztendlich musste die Auflösung ungeklärt bleiben.
Die Mitteilung eines erneuten AtlantikĂĽberfluges und ein paar aufwendige Reklameanzeigen fĂĽllen den Rest der ersten Seite.
Jason schaut mich ratlos an.
Ich drehe die Seite um und merke wie mir augenblicklich der Mund offen stehen bleibt. Die Ăśberschrift einer schmalen Kolumne mit Bild vom See aus den Bergen lautet:
Mysteriöser Knabentod am Token Lake
Badestelle bis auf weiteres gesperrt.
Im Text wird von der Bergung des zweijährigen Jakob Miller berichtet, die nach 36-stündiger Suche endlich
geglückt wäre.
Ich klappe meinen Mund wieder zu.
Jason nimmt sich rasch die anderen Blätter zur Hand.
Zwei nachfolgende Ausgaben berichten ĂĽber die Todesursache des kleinen Jakob, wobei man von Ertrinken ausgeht. Gewaltsame Vergehen wurden ausgeschlossen. Es handele sich um einen tragischen Unfall. Der letzte Artikel in der folgenden Zeitung zeigt den Leichenzug und die Trauerfeier.
„Wie schlimm muss das alles für Klara gewesen sein.“ Ich bekomme kaum ein Wort heraus.
„Mich würde es nicht wundern, wenn sie wirklich verrückt geworden ist. Grund
genug hatte sie ja wohl“, sagt Jason sarkastisch.
Stumm und bedrückt legen wir die Zeitungen wieder sorgfältig zusammen.
Ich sammle die Reste der Fotos und Plakate vom Boden auf, die noch einigermaßen erhalten geblieben sind. „Ich werde sie mit zu mir nehmen und wenn du einverstanden bist, morgen gern Tante Mayland zeigen“, frage ich bittend.
„Klar“, sagt er und blinzelt mit den Augen.
Vor der HĂĽtte nimmt er mich noch einmal vorsichtig in die Arme. Er streicht mir versonnen durchs Haar und behutsam ĂĽber meine Wange.
Doch ich drücke seine Handfläche noch fester gegen mein Gesicht. Kuschle mich förmlich hinein. Der Geruch von Öl und Benzin stört mich nicht.
Traurig verlassen wir diesen geschundenen Ort und mein letzter Blick gilt dem vollen Mond ĂĽber der HĂĽtte. Unserem einzigen Zeugen.