... alles ist möglich
Der Patient, der sich nur mühsam aufrecht halten konnte und verzweifelt der Sprechstundenhilfe am Empfangstresen seinen elenden Zustand schilderte, erntete nur ein bedauerndes Lächeln und ein Schulterzucken der pflichtbewussten Dame.
Sie warf einen Blick auf die Chipkarte und schüttelte den Kopf.
„Das Wartezimmer ist voll, Herr Meier. Zwischendurch kommen noch die bestellten Patienten. Sie müssen mit einer langen Wartezeit rechnen. Schwester Gudrun hat heute frei und Schwester Martina wechselt
heute nur Verbände. Der Doktor ist allein. Wollen Sie nicht einen Termin für nächste Woche vereinbaren?“
Auf Herrn Meiers Stirn hatten sich Schweißperlen gebildet. Er sieht wirklich nicht gut aus, dachte die Sprechstundenhilfe mitfühlend. Was sollte sie tun? Sie hatte vom Doktor ihre Anweisungen.
Ein anderer Patient betrat gerade den Raum und steuerte schnurstracks in das Wartezimmer.
„Wenn der Patient das Behandlungszimmer des Doktors verlässt, können Sie gleich hineingehen, Herr Marquardt“, rief ihm die Sprechstundenhilfe hinterher.
Eine Chipkarte brauchte er nicht vorlegen.
„Mir geht es schlecht, Schwester“, flüsterte
Herr Meier.
„Ich habe Schmerzen in der Brust, der Arm schmerzt bis in die Fingerspitzen und ich bekomme kaum Luft.“
„Nehmen Sie erst einmal im Wartezimmer 1 Platz. Im Wartezimmer 2 sind die Patienten für Schwester Martina. Ich werde sehen, was ich tun kann“, beruhigte ihn die zur Schwester beförderte Sprechstundenhilfe, griff nach seiner Akte und verschwand damit im Zimmer des Doktors.
Herr Meier betrat das Wartezimmer und sein Zustand verschlechterte sich um ein Vielfaches. Alle Stühle waren besetzt. Mitleidige Blicke streiften ihn, eine Patientin stand auf und bot ihm ihren Platz an.
Die Zeit verging. Patienten kamen und gingen, einige wurden sofort zum Doktor vorgelassen, kaum, dass sie die Arztpraxis betreten hatten. Langsam leerte sich das Wartezimmer und endlich nach vier Stunden wurde Herr Meier aufgerufen. Er war der letzte Patient. Die Schweißperlen waren von seiner Stirn verschwunden, doch seine Gesichtsfarbe war noch fahler als bei seinem Eintreffen. Er sah erschreckend aus. Mühsam stand er auf und ging mit hölzernen Schritten zur Tür des Behandlungszimmers. Auch der Doktor war irritiert als der Patient sein Zimmer betrat.
„Nehmen Sie Platz“, forderte er den Patienten auf.
Doch Herr Meier schüttelte den Kopf und
blieb stehen. Befremdet blätterte der Doktor in der Akte.
„Was haben Sie für Probleme?“
„Keine mehr, Herr Doktor. Als ich her kam, hatte ich noch Schmerzen in der Brust ...“
„Machen Sie den Oberkörper frei“, unterbrach ihn der Doktor.
Langsam und mit steifen Bewegungen entledigte sich Herr Meier seines Hemdes.
Der Doktor beobachtete ihn dabei und konnte sich eines unguten Gefühls nicht erwehren. Er hätte ihn früher hereinrufen sollen. Die wächserne Haut, der starre Blick, nicht einmal hatte er mit den Augen geblinzelt.
Konzentriert setzte der Doktor das Stethoskop an. Verwirrt unterbrach er seine Untersuchung und schüttelte den
Stethoskopkopf, bevor er erneut versuchte Schallwellen zu empfangen. Das Gerät war wohl kaputt. Er nahm ein anderes Stethoskop aus der Schublade seines Schreibtisches und versuchte es noch einmal. Entsetzen zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. Mit zitternden Fingern tastete er nach der Halsschlagader des Patienten. Er zuckte zurück als er die Haut des Patienten berührte. Doch er wiederholte sein Vorhaben.
„Kein Puls, kein Herzschlag“, stammelte der Arzt und ließ sich in seinen schicken Sessel fallen. Die Beine hatten ihm den Dienst versagt.
„Der Mann ist tot“, krächzte er und blickte mit irren Augen auf den vor ihm stehenden Patienten.
„Ich weiß, Herr Doktor“, antwortete der leise, „schon seit mehr als zwei Stunden. Doch da ich nun einmal hier bin, wollte ich auch erfahren, woran ich gestorben bin.“
„Kein Puls, kein Herzschlag ... Herzinfarkt ...“, brabbelte der Doktor zusammenhanglos vor sich hin.
„Das dachte ich mir“, antwortete Herr Meier.
„Das gibt es nicht“, flüsterte der Doktor.
„Doch, doch, Herr Doktor, denken Sie an Störtebeker.“
Bei diesen Worten fiel Herr Meier zur Seite und landete mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden.
Nur mit Mühe gelang es dem Doktor sich aus dem Sessel zu erheben. Er taumelte zur Tür, riss sie auf und durchquerte das
Wartezimmer. Endlich am Empfangstresen der Sprechstundenhilfe flüsterte er:
„Rufen Sie den Notarzt und die Polizei, Frau Kleinschmidt. Herr Meier ist tot. Hier stimmt etwas nicht.“
„Um Gottes Willen, Herr Doktor. Er sah aber auch elend aus. Ich dachte, er wäre schon wieder weg. Nachdem ich Ihnen seine Akte hineingebracht hatte, habe ich nicht mehr auf ihn geachtet.“
„... und schicken Sie Schwester Martina in mein Zimmer“, setzte er nach Atem ringend hinzu.
„Die hat schon Feierabend“, antwortete Frau Kleinschmidt und griff zum Telefonhörer.
Schon fünf Minuten später betraten zwei Polizisten die Arztpraxis. Ein Streifenwagen
war gerade in der Nähe gewesen. Sie hörten sich die merkwürdigen Ausführungen des Arztes an und waren ratlos, wie sie sich verhalten sollten. Auch Frau Kleinschmidt wirkte konsterniert, nachdem der Doktor seine Erklärungen beendet hatte. Endlich kam der Notarzt mit einem Sanitäter.
Als er den Toten auf dem Boden liegen sah, schüttelte er den Kopf.
„Das kommt auch nicht so oft vor, dass ein Patient in einer Arztpraxis stirbt, Herr Kollege.“
Betroffen unterbrach er nach zwei Minuten die Untersuchung und blickte auf seinen derangiert wirkenden Kollegen.
„Der Mann ist seit mindestens zwei Stunden tot. Augenlider, Gesicht, Hals und die kleinen Gelenke sind schon von der Leichenstarre
betroffen. Warum haben Sie so spät den Notdienst informiert?“
„Ich weiß, Herr Kollege ... aber der Patient kam erst vor einer halben Stunde in mein Sprechzimmer. Er wollte seine Todesursache wissen. Denken Sie an Störtebeker, Herr Kollege ... alles ist möglich.“
Der Notarzt blickte auf seinen Kollegen, dann auf den Sanitäter, der hilflos mit den Schultern zuckte und sagte zu den Polizisten:
„Rufen Sie Ihre Kollegen von der Kripo! Ich muss diesen Vorfall melden. Und bleiben Sie bitte in der Nähe. Vielleicht brauche ich Ihre Hilfe.“
Dann füllte er das Formular für die Krankenhauseinweisung in die Psychiatrische Klinik aus.
©KaraList 02/2016