Herr Morgenschreck
Langsam schiebt sich, wie an jedem Morgen, die Gardine zur Seite.
Ein laues Lüftchen bewegt die frischen Blätter in diesen noch jungen Frühlingstagen.
Azurblau strahlt der Himmel und verspricht ein wenig zu viel.
Die Berge in weiter Ferne sind noch immer mit einer Schneeschicht bedeckt, doch hier unten im Tal setzt sich mit aller Macht das leuchtende Grün des Frühlings durch.
Trotz Morgenfrische sind die Vögel nicht mehr zu halten. Sie bestreiten einen lautstarken Singwettbewerb.
Hinter der Gardine beobachtet ein aufmerksames Augenpaar die Geschehnisse auf der Straße.
Während sich nicht viel rührt, außer ein paar vorbeifahrenden Autos, spinnen Gedankenfäden große Fragezeichen.
Hat er endlich aufgegeben?
Soll es wahr sein?
Wirklich endlich Ruhe?
Sie hätte beinahe nicht mehr daran geglaubt.
Dass er sich abfinden kann.
Jemals abfinden würde.
Ein harter Schlag für ihn! Ohne Zweifel.
Doch dieser allmorgendliche Terror auf der Straße … einfach nicht auszuhalten.
Seine ewigen Rufe nach ihr!
In seinem Morgenmantel, Pantoffeln und wirrem Haar sucht er nach ihr.
Als käme er geradewegs von einem billigen Kostümverleih.
In großer Eile, großer Verzweiflung.
Jeden Morgen aufs Neue.
Man kann die Uhr nach ihm stellen.
Aber nicht heute.
Ist das nun ein gutes Zeichen?
Oder ist es als schlechtes Omen zu werten.
Sie denkt, an diesem wunderbaren Frühlingsmorgen kann es nur ein gutes Zeichen sein.
Sicher hat er seinen Frieden gefunden.
Sie ist nicht die einzige, die diesen Gedanken nachhängt. Viele Gardinen sind in Bewegung.
Freude oder Unbehagen, es ist nicht zu deuten.
„Lisa!“ ruft er. Immer wieder „Liiisa! Liiiiisa!“
Im Bad, im Keller!
Überall hat er bereits nachgesehen! Nichts! Sie ist nicht zu finden!
Auch bei den Mülleimern … nichts!
Er will es sofort beichten.
Kein Fettnäpfchen lässt er aus.
Aber auch gar keins!
Die Schneekugel war ein Geschenk von ihr!
Was für ein Schock am Morgen!
„Liiisa!“
Eilig rafft er seinen Morgenrock zusammen und hastet auf die Straße.
„Liiiisa!“
Wenn er sie nicht gleich findet, packt ihn der Wahnsinn, das weiß er.
Was soll er – ohne sie?
„Liiiisa!“
Da! Ein Nachbar!
Er rennt auf ihn zu, „haben sie meine Lisa gesehen?“
Warum nur grinst der Mann so mitleidig? Grinst und schüttelt den Kopf. Wendet sich schnell ab.
Dann sucht er eben weiter.
„Lisa! Liiiisa!“
Um tausend Ecken!
„Liiisa!“
Und dann …
Er hat sie nicht gesehen!
Rennt er in diese Männergruppe.
„Entschuldigen Sie! Haben sie Lisa, meine Frau, gesehen?“
„Nee Alter, die ist nicht mehr. Das weiß doch jeder!
Und jetzt halt endlich deine Fresse!“
„Liiisa!“
„Halt die Fresse hab ich gesagt!“
Eilig versucht der Alte die Männergruppe auseinanderzuschieben.
„Liiiisa!“
Mit voller Wucht trifft ihn die Latte.
Das Gefühl in seinem Kopf gleicht dem Sturm in der Schneekugel, die daheim von dem Kaminsims gerollt war und auf den Fliesen
zerschellte.
Er geht zu Boden.
Springerstiefel zeichnen sein Gesicht.
Sie treten auf den alten Mann ein, als könnte er noch irgendetwas ausrichten.
Flächenbrand in der Magengrube.
Blutbefleckte Straße.
Und dann …
Stille.
Unendliche Stille.
„Ich hab doch gesagt, er soll Ruhe geben!“
„Blöder Alter.“
„War vielleicht ein bisschen viel.“
„Der war doch sowieso irre.“
„Ich weiß nicht.“
„Was machen wir denn jetzt?“
„Komm, wir haben die Straße wieder friedlich gemacht.“
„Ja, gut so.“
„Ja.“
„Wohin mit dem Alten?“
„Ach, die werden sich schon kümmern.“
„Gute Nacht, alter Mann“, sagt noch einer, ehe die Gruppe weiterzieht.