Acht Monate des Wartens, acht Monate der ständigen Ungewissheit, acht Monate, in denen Mama immer verwirrter und müder wurde, acht Monate jeden Abend mit ihr zusammen Criminal Minds schauen anstatt Hausaufgaben zu machen, acht Monate Stress, Verdrängen, Zerreissprobe.
Dann kam der Anruf, es war ein Samstag, und ich war nicht einmal zuhause, was selten war bei mir.
Ich war in Zürich, als ich einen Anruf von meinem Vater erhielt.
„Der Anruf ist gekommen“.
„Ok.“
Ich kann mich nicht an das letzte Mal erinnern, an dem ich richtig mit dir gesprochen habe. Unser letzter Akt vor dem Spital war wohl ein flüchtiger Abschied, ich hätte an diesem Morgen nämlich beinahe den Bus verpasst.
So kam ich am Abend nachhause, ass mit
meinem Vater ein Lachssandwich und wir warteten gemeinsam auf den nächsten Anruf. Ich hatte mich fast ein Jahr lang auf diesen Moment vorbereiten können. Grösstenteils überwogen die Angst und der Pessimismus. Ich war immer die, die am meisten Zweifel an der ganzen Sache hatte, dabei bin ich sonst ein ziemlich optimistischer Mensch.
Doch an diesem Abend verspürte ich Hoffnung. Ich wusste, entweder würde alles super laufen oder gar nicht gut. Und ich hatte das Gefühl, das Schicksal wäre dieses Mal auf unserer Seite.
Wir sassen im Wohnzimmer. Stille.
„Vielleicht sollten wir ein wenig fernsehen.“
Irgendwann kam tatsächlich der nächste Anruf, die Operation sei grundsätzlich gut verlaufen. "Grundsätzlich", was für ein mieses Wort, dass einem beinahe die ganze Hoffnung wieder aussaugt. Ein paar Blutungen habe es gegeben.
Am nächsten Tag wieder ein Anruf. Sie habe aufgrund der Blutungen noch einmal operiert werden müssen, aber wir sollten uns nicht zu grosse Sorgen machen.
Kannst du dir das vorstellen? Du hast Angst vor der Stille, weil du den Klingelton des Handys deines Vaters nicht hören willst. Dieser blöde Ton, der den nächsten Schritt des Schicksals ankündigt.
Nach einigen Tagen konnten wir sie zum ersten Mal auf die Intensivstation besuchen gehen. Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie aufgeregt ich war. Ich bereitete mich innerlich aufs Schlimmste vor. Nach einer gefühlten Ewigkeit des Wartens vor der Station wurden wir endlich hineingebeten. Wir mussten uns die Hände desinfizieren. Danach öffnete uns die Krankenschwester die elektronische Schiebetür und wir sahen Mama zum ersten Mal. Sie lag ganz ruhig da, ein bisschen aufgedunsen, ein
bisschen blass, aber lange nicht so schlimm aussehend, wie ich es erwartet hatte. Ich sah auf die Anzeige. Puls um die 110. Atemunterstützung um die 17. Ich hatte noch keine Ahnung. Im Laufe der Zeit wurde ich zu einem richtigen Profi, was diese Anzeige anging.
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So viel ist passiert.
In so kurzer Zeit.
Wie schaffe ich es bloss, stark zu bleiben?
Jeden Abend nach der Schule nahm ich den Bus in die Stadt. Es gibt zwei Wege, um zum Krankenhaus zu gelangen: Entweder man fährt bis zum Busbahnhof und nimmt die Nummer elf, oder man fährt bis zu einer bestimmten Strasse und geht dann zehn Minuten geradeaus. Meistens wählte ich die zweite Option. Das Gehen tat mir gut. Ich hörte ganz laut Musik und ging durch diese graue Strasse, ich schwöre, ich habe noch nie eine Strasse gesehen, die vom Leben mehr verlassen war als diese, auf halbem Weg befindet sich der Frisör „Kunterbunt“, und ich musste jedes Mal lachen, wenn ich an ihm vorbeiging, weil ich mich fragte, ob die Besitzer diesen Namen ironischerweise gewählt hatten.
Gott, ich hasse Krankenhäuser. Ich kann mich
noch daran erinnern, wie ich ein paar Monate zuvor meine Mutter zu einer Abklärung in einem der Nebengebäude des Krankenhauses begleitet habe, und schon damals erhielt ich fast eine Panikattacke.
Aber jeden einzelnen Abend ein solches Haus betreten zu müssen, macht einen kaputt. Ich dachte immer, die Zeit des Wartens sei die schlimmste gewesen, doch nach den ersten Wochen der Krankenhausbesuche hatte sich meine Meinung geändert.
Komischerweise wurde ich während dieser Zeit aber auch besser in der Schule. Ich kann mir das bis heute nicht wirklich erklären.
Eine weitere Frage, die sich mir im bisher kurzen Verlauf meines Lebens immer wieder stellte: Was ist Liebe eigentlich genau?
Ich glaube, ich weiss heute ungefähr, was Liebe für mich bedeutet.
Wenn jemand mir seine ganze Existenz widmet,
immer hinter mir steht, auch wenn er eigentlich gar nicht da ist, wenn ich ihn spüre, seine Stimme höre, obwohl ich ihn seit Wochen nicht mehr gesehen habe, wenn mein Herz mich zu ihm zieht, als wäre es der Pluspol und seines der Minuspol, wenn er mir die Stärke gibt, trotz allem weiterzumachen, obwohl ich eigentlich schon lange nicht mehr kann, wenn er mir bedingungslos seine Gefühle, Zuneigung und seinen Respekt schenkt, das ist für mich ein Mensch, der mich liebt.