Das aufdringliche Klingeln meines Weckers riss mich aus einem Traum, den es weiterzuträumen eh nicht lohnte. Jedoch ... wieder einmal viel zu früh, nach einer viel zu kurzen Nacht.
Es war spät geworden gestern Abend. Ein Mal im Jahr lud der Chef zur After Work Party ein. Warum auch nicht? Dafür hatte ich heute frei genommen, um all meine persönlichen Aktivitäten und Termine wahrnehmen zu können. Ein Tag nur für mich. Aber ...
Mit einem Schlag war ich hell wach.
Irgendetwas war heute morgen anders. Da war dieses seltsame Gefühl. Kribbeln auf der Haut. Flaute in den Eingeweiden. Angespannte Muskeln.
Langsam versuchte ich mich in der Dunkelheit
zu orientieren. Hinter mir schnarchte mein Mann den Schlaf der Gerechten. Nur nicht wecken, solange nicht das Frühstück bereitet war und ihm der Duft von frischem Kaffee in die Nase stieg.
Dann hörte ich es.
Leise, ganz leise kratzte es an den Wänden.
Es war erwacht!
Nach so langer Zeit. Warum?
Im Finsteren tastete ich nach meinen Latschen und huschte flink ins Bad. Na prima. Der Spiegel war verschmiert mit Zahnpasta und Rasierschaum.
Für einen Moment funkelten mich zornige
smaragdgrüne Augen mit feuerroten Pupillen an.
Es war tasächlich erwacht!
Ein Wischen mit dem Feuchttuch, ein Zwinkern mit den Augen und der Spuk war vorbei.
Aber noch immer spürte ich seine Gegenwart.
Lauernd. Boshaft. Heimtückisch.
... und ich fragte mich: Wieso gerade heute?
Die Frage beschäftigte mich noch immer, als ich auf dem Weg zur Küche am Kalender vorbei kam.
Ich erstarrte.
Wie konnte ich ihn nur vergessen? Oder hatte
ich ihn nur verdrängt?
Der 26. Februar.
Ein markerschütterndes Aufheulen drang durch's Haus. Dann fing es an, wie in einem Käfig hin und her zu tigern.
Gereizt. Zornig. Wütend.
Es ignorierend wendete ich mich meinen morgentlichen Pflichten zu. Keinesfalls wollte ich dem eine besondere Bedeutung beimessen. Doch wider besseren Wissen kehrten meine Gedanken zurück ... zurück zu diesem Tag.
Zum 26. Februar des Jahres ...
Endlich war ich wieder glücklich. Gregor zeigte
mir eine andere Welt. Mein Leben bekam einen gänzlich neuen Sinn. Ich fühlte mich geliebt, wertvoll als Frau, als etwas ganz Besonderes. Arbeit, Familie, Haushalt waren plötzlich nicht mehr der Mittelpunkt meines Seins. Im siebten Himmel schwelgen, auf Wolken schweben, die Erde aus den Angeln heben ... bis zum 26. Februar.
Gregor verschwand von einen auf den anderen Tag aus meinem Leben.
Auf Nimmerwiedersehen.
Er nahm alles mit, was ich war. Meine Liebe. Meine Selbstachtung. Meine Hilfe. Einfach alles. Was zurückblieb, war ein Haufen Scherben, ein gebrochenes Herz und dieses ... Dingsda.
Getroffen. Verletzt. Gekränkt.
Durch seine Arglist, Niedertracht, Hinterlist und Intriganz war Gregor in dunkelste Tiefen vorgedrungen und hatte es erweckt.
Viel Zeit ging ins Land, bevor es wieder dahin verschwand, wo es herkam.
Auch ich fand in mein altes Leben zurück. Ruhe kehrte ein. Ich hatte meinen inneren Frieden wieder.
„Elvira! Wo ist denn die Zahnpasta? Die lag doch gestern noch auf dem Waschbecken?“, brüllte Horst aus dem Bad.
Sofort war ich zurück. In der Gegenwart.
Ich überhörte diese bescheuerte Frage, denn wenn er die Augen richtig aufmachte, würde er
die Tube im Becher bei der Zahnbürste sehen können.
Warum sollte es heute morgen anders sein?
Es knurrte und schabte an den Mauern.
Mittlerweile waren die Kinder geweckt, der Frühstückstisch gedeckt, die Arbeits- und Schulbrote geschmiert. Wo waren denn nur die Brotdosen der Kinder? In den Schultaschen ... natürlich. Wo sonst? Konnte auch keiner ausräumen und wenn ich nicht falsch lag, hatte Horst auch nicht die Taschen mit den Kindern für den heutigen Schultag gepackt. Alles kein Problem.
Es brüllte und zerrte an den Ketten.
„Mamaaa!“ Die Lütte schrie aus Leibeskräften. Kein Grund zur Panik. Sie wollte nur nicht die Sachen anziehen, die ich ihr hingelegt hatte. Die waren nicht cool genug. Nur ein klein wenig Zuspruch und Überredungskunst, dann war's das schon. Sohnemann lag noch im Bett und machte keinerlei Anstalten, aufzustehen. Der Grund? Ein Eintrag im Muttiheft. Unterschreiben musste natürlich ich. Stand schließlich im „Muttiheft“. Wer sich solche Dinge nur einfallen ließ.
Es kroch jaulend und winselnd langsam nach oben.
Plötzlich ein Knall aus der Küche. Ein Fluchen.
Mein Mann hatte die große Teekanne von Tante Bille fallen lassen. Was sollt's. War ja kein Beinbruch. Ich räumte die Scherben weg. Konnte doch passieren.
Es pumpte Adrenalin in die Adern und Luft in die Lunge. Es brodelte.
„Wo sind denn die Äpfel? Seh gar keine.“, murrte mein Mann. Ja, ich wusste doch, er mochte morgens immer seinen Apfel. Wie konnte es sein, dass ich dies vergaß? Zu meinem Glück gab es noch genügend des wundervollen Obstes in der Kiste auf dem Balkon. Unserem Balkon, der ohne große Schwierigkeiten zu erreichen war. Ich tat es ja gern.
Es wütete. Es brüllte. Es warf sich gegen
die letzte Barriere. Bald ... bald würde es sich
befreit haben und seinem Kerker entfliehen können.
Wie von weiter Ferne verfolgte ich das sorglose Geplapper meiner Familie.
Sie hatten alles was sie brauchten ...und wenn nicht, war ich ja auch noch da. Sie lebten in ihrer heilen kleinen Welt.
Aber hörten sie es denn nicht? Spürten sie nicht seine Präsenz?
Scheinbar nicht.
Ich stehe auf dem Balkon und halte die Augen geschlossen. Tränen laufen mir über die Wangen. Meine Lungen mit frischer Luft
füllend, genieße ich die Ruhe.
Hm ... milde Frühlingsluft.
Zu mild für diese Jahreszeit. Aber wohltuend. Ein ganzer Tag liegt vor mir.
Ein Tag … nur für mich.
Erst heute Abend wird mich der Altag wieder einholen. Doch bis dahin …
Es verschwand grollend wieder im tiefsten Schatten seines Kerkers.
Aufmerksam. Beobachtend. Wartend.
© A.B.Schuetze 02/2016