Mein grösster Traum war es schon immer, ein Buch zu veröffentlichen. Mein grösster Albtraum war es schon immer, ein Elternteil zu verlieren. Zu diesem Zeitpunkt hat sich beides verwirklicht. Ich könnte nicht glücklicher und nicht trauriger sein. Was muss das für ein Moment sein, mein eigenes Buch zum ersten Mal ausgestellt im Schaufenster eines Buchladens zu sehen! Und am selben Abend nach Hause zu kommen und dem Bild meiner Mama einen Luftkuss zuzuwerfen, dazustehen und zu sehen, wie sie mich anlächelt, mit diesem breiten und doch etwas bemühten Lächeln und den Augen, die einem damals schon verrieten:
"Mir geht es nicht gut. Ich kämpfe weiter. Siehst du, ich bin stark. Aber das Ende ist nah, ich weiss es. Eigentlich weiss ich es schon lange. Aber ich kämpfe weiter, für
euch."
Genau diese Nachricht steht in ihren Augen, wenn man etwas genauer hineinblickt. Ein kleiner Funken, als würde sie sich freuen. Als hätte sie Mitleid mit uns. Ich werde also noch eine Weile ihr Bild ansehen, die Zähne putzen und ins Bett gehen. Und ich werde stolz auf mich sein, und sie wird stolz auf mich sein, und das Leben und dieses Irgendwas, das nach dem Leben kommt, geht weiter. Neue Fragen tauchen auf, und alte werden mit der Zeit beantwortet. Vielleicht. Es ist die Ungeduld, die mich zerreisst.
Liebe Mama
Was ist Liebe?
Muss Liebe immer automatisch mit Leidenschaft zusammenhängen?
Ich wünschte, ich könnte mich mit dir unterhalten, noch einmal deine Stimme hören.
Seit Wochen bist du nicht mehr in meinen Träumen erschienen.
Was ist bloss los?
Früher war alles einfacher, sagen alle. Ich hasste meine Kindheit. Das darf man jetzt nicht falsch verstehen – meine Eltern sind die besten im ganzen Universum – ich kam mir einfach vor, als befände ich mich im falschen Film. Schon im Spielgruppenalter redete ich lieber mit Erwachsenen, als mit Gleichaltrigen zu spielen. Ich war ein stilles Kind, das sich nachmittags im Zimmer verbarrikadierte und mit seinen Barbies spielte, die es wiederum
jedes Mal versteckte, wenn jemand zu Besuch kam. Ich war richtig ängstlich. Meine grösste Angst war es, von anderen kritisiert zu werden, etwas falsch zu machen. Ich frage mich bis heute, woher das kam. Meine Eltern sagten mir immer, ich solle zufrieden sein, so, wie ich bin.
Mein ganzes Leben war bis zu einem gewissen Zeitpunkt ziemlich langweilig. Es gab nie diese wahnsinnigen Höhe – und Tiefpunkte, nur wärmere und kältere Sommer, weisse Weihnachten und graue Weihnachten. Es zog an mir vorbei und drückte mir wie eine immer grösser werdende Last auf die Brust.
Ich weiss nicht, was dies für ein Gefühl gewesen ist. Vielleicht die grösste Langeweile, die ein Mensch je verspürt hat. Ich war allerdings auch selber schuld. Ich wollte nie etwas mit anderen unternehmen. Wie gesagt, am Liebsten sass ich zuhause in meinem Zimmer und spielte für mich allein. Worauf will ich eigentlich hinaus? Ich weiss es selbst nicht so
genau. Ich weiss bloss, dass ich mir zu dieser Zeit schon tausende Fragen stellte. Eine der grössten ist und bleibt die Frage nach dem Schicksal.
Gibt es das Schicksal? Wenn ja, haben wir überhaupt einen freien Willen, oder sind wir bloss Marionetten in einem Spiel, das unendlich scheint?
Ich möchte mich nun mit dieser Frage auseinandersetzen, und um dies richtig tun zu können, werde ich meine Geschichte schildern, denn auch bei mir wendete sich das Blatt irgendwann.
Genauergesagt im Frühling des vorletzten Jahres.
Es tut mir übrigens leid, Herr Tingler, falls diese Erzählung ihrer Ansicht nach ziemlich langweilig und eindimensional wirkt. Sie haben mich dazu ermuntert, immer weiterzumachen, auch wenn das Geschäft manchmal ziemlich fies sein kann. Und ob es ihnen nun passt oder nicht, habe ich mir Ihre Worte zu Herzen genommen und versuche jetzt, den Beginn meiner Geschichte niederzuschreiben. Sie verzeihen – meine Worte sind einfache Worte – es ist die Sprache der Jugend, zu der ich irgendwie dazugehöre und irgendwie nicht.
Nun also tauche ich unter und stelle mich meinen grössten Tiefpunkten.
Bessergesagt meinem grössten Tiefpunkt.
Es ist nicht der erste Liebeskummer (der kommt erst noch, verdammt!) oder Existenzzweifel (wobei, wenn ich so darüber nachdenke...).
Es ist der Verlust meiner
Mutter.
In einigen Jahren, wenn ich über 18 Jahre alt sein werde, wird sich wohl kaum jemand mehr dafür interessieren, dass ich Mama so früh verloren habe. Und wer weiss, vielleicht werde ich es aus Stress verdrängen. Um dies zu verhindern, schreibe ich nun alles so detailliert nieder, wie ich mich daran erinnern kann.
Und wie Freddie so schön sagte: „No – one’s gonna stop me now, Mama!“
Oh Gott, das tönt schon jetzt verdammt kitschig. Aber ich sage dir, das, was ich in den vergangenen Monaten erlebt habe, ist alles andere als kitschig.
Alles begann irgendwann im Mai 2014 mit den Worten „ich habe Krebs“.
Und nein, jetzt folgt nicht die typische
Geschichte mit monatelanger Chemo und Haarausfall.
Wir hatten nämlich so etwas wie „Glück“ und die Tumore waren nur einige Millimeter gross. Trotzdem war die Leber meiner Mutter bereits so geschädigt (ich komme später darauf zurück, warum), dass ihre einzige Rettung eine Lebertransplantation war.
Stell dir das mal vor, du kommst nachhause und deine Mutter steht mit Tränen in den Augen vor dir und sagt es dir einfach so, ohne Vorwarnung. Diese Worte, von denen du nie geglaubt hättest, dass sie irgendwann mal von ihr geäussert würden.
In diesem Moment fiel etwas in mir zusammen. Das Atmen fiel mir schwer, das Denken auch. Der einzige Satz, der damals in meinem Kopf herumschwirrte, war: „Womit haben wir das verdient?“ Ich weinte. Ich weinte lange. Und dann warf ich ihr tausend Dinge vor.
Warum sie mich überhaupt auf die Welt gestellt
habe, sie habe doch gewusst, dass das passieren würde. Warum sie sich früher so einen Scheiss angetan hatte, sie habe doch gewusst, dass sie früh sterben würde. Irgendwann war ich fertig mit meinen Hasstiraden.
Noch leerer als vorhin.
Es tut mir so leid, ich war noch ein Kind.
Ich hatte immer das Gefühl, dass sie mehr weiss als wir.
Wir mussten uns die Frage stellen: Wollen wir noch ein Jahr richtig zusammen geniessen, mit dem Wissen, dass sie bald sterben wird, oder ein Jahr lang kämpfen, mit dem Risiko, dass alles nichts genützt hat?
Mama wählte die zweite Option. „Ich stehe das durch, für euch.“
Sie kämpfte nicht für sich, sondern für uns, und das bis zum bitteren Schluss. Wenn das nicht Liebe ist, dann weiss ich auch nicht.
Nach ein paar Monaten ständiger Abklärungen
kam sie auf die Transplantationsliste.
Zu diesem Zeitpunkt hatte ich niemandem ausser meiner besten Freundin von unserem Schicksal erzählt.
Hier möchte ich gerne anfügen: Wenn du gerade etwas Schlimmes durchmachst, friss es nicht in dich hinein, sondern rede darüber! Wirklich! Auch wenn du denkst, dass es deinem Gegenüber irgendwelche seelische Schäden zufügen könnte, das Wichtigste bist in diesem Moment immer noch du!
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