Der alte Mann
In dem Moment als ich ihn sehe, spüre ich sofort, dass etwas nicht stimmt.
Dieser Samstagmorgen ist einer der vielen, an denen ich zu früher Stunde zur Arbeit fahre. Unser kleiner Ort döst noch völlig verschlafen und wie gewohnt, ist niemand außer mir auf der schmalen Feldstraße unterwegs. Ich genieße die friedvolle Lautlosigkeit - bis zu diesem Moment, als ich das kleine Pferdefuhrwerk in der Ferne erkenne. Eine Gänsehaut überzieht kühl meinen Rücken, denn mir ist augenblicklich klar, dass etwas Ungewöhnliches passiert sein muss, wenn es da so still am Wegrand
steht. Adrenalin rauscht durch meine Adern. Am liebsten würde ich umkehren, einen anderen Weg wählen, aber natürlich fahre ich langsam weiter. Innerlich wehre ich mich, möchte nicht hinschauen und zu gern diesen Morgenschock vermeiden, der dort als immer größer werdende Tatsache auf mich wartet.
War die schwarze Katze, die kurz zuvor von links nach rechts über den Weg lief ein Menetekel? Ich hatte darüber gelächelt, aber nun spüre ich, wie die Anspannung das Lachen aus meinem Gesicht vertreibt.
Als ich das Auto dicht neben der Pferdekutsche anhalte und den Motor
ausstelle, dröhnt die Radiomusik schlagartig überlaut aus den Lautsprechern. Obwohl ich den Samstag-Morgen-Rock meines Lieblingssenders mag, ist er mir urplötzlich zuwider.
Ich will nicht sehen, was ich ahne und doch tragen mich meine Füße die letzten Schritte zu ihm - zu meinem alten Mann.
Das Pferd, ein Brauner, war einfach stehen geblieben. Ganz still schaut er mich aus großen Augen an und schnaubt leise weißen Dunst in den Morgen. Auch das Tier spürte vermutlich, dass die Reise nicht weitergehen wird.
Der alte Mann - mein alter Mann - wie ich ihn in den letzten Monaten liebevoll genannt hatte, war auf seinem
Kutschbock zur Seite gesunken und lag in eine Decke gehüllt, bequem halb auf dem Rücken. Man hätte glauben können, dass er eine kurzes Nickerchen macht, aber ich begriff schnell, dass er seine letzte Reise angetreten hatte. Der alte Mann war offensichtlich für immer eingeschlafen, während er seinen Morgenausflug unternahm. Friedlich sieht er aus, fast kann ich sein verschmitztes Lächeln erkennen, das mir so vertraut geworden ist.
Die Vögel singen in den Ästen des Baumes über uns, die ersten Sonnenstrahlen drängen durch das farbige Laub und die kühle Herbstluft zieht in letzten Nebelschleiern zu den
angrenzenden Bergen. Die gesamte Situation strömt Ruhe und Frieden aus und wenn er in diesem Moment spontan seine Hand zum Gruß heben würde, wäre ich nicht verwundert.
Ganz langsam realisiere ich dennoch, was geschehen ist. Natürlich ist es meine Pflicht, den Rettungsdienst zu alarmieren und fast möchte ich mich dafür bei ihm entschuldigen. In seiner friedlichen Lage sieht er nicht danach aus, als ob er Martinshorn und Ärzte um sich haben möchte.
Kurz denke ich nach, ob ich es fertig bringe und dann folge ich einem inneren Bedürfnis. Nach dem ich telefoniert habe, steige ich langsam auf den
Kutschbock und setze mich neben ihn. Der kleine Wagen wackelt etwas und das Pferd dreht kurz seinen Kopf zu mir herum, so als ob es sein Einverständnis geben möchte. Ist es wirklich richtig, was ich mache? Ich weiß, dass nicht viel Zeit bis zum Eintreffen der Rettungskräfte vergehen wird, also sammele ich meinen Mut und lege meine Hand auf seine, die in einem alten Lederhandschuh steckt. Mit der Berührung schieben sich augenblicklich Erinnerungen vor meine Augen.
Zum ersten Mal trafen wir uns vor vielen Monaten. Er mit seiner Pferdekutsche machte sich viel zu breit auf meinem
Schleichweg. Unglaublich! Was tat der Zausel zu dieser nachtschlafenden Zeit auf meiner Straße? Und dann noch in Überbreite? Natürlich drosselte ich mein Tempo nicht, ich war schließlich zuerst hier und war ja nicht zum Ausflug unterwegs. Die Stempeluhr in der Arbeit erwartete micht leise tickend. Mit dieser Einstellung war ich wohl kräftig in ein Fettnäpfchen getreten, oder in diesem Fall durch eins gefahren. Als wir knapp auf einer Höhe waren und keiner von uns beiden das Feld räumte, drohte er mir sehr grimmig mit der Faust. Ich meinerseits hätte zu gern laut gehupt, verkniff es mir aber. Das arme Pferd wollte ich nicht erschrecken, schließlich
konnte es nichts für seinen Besitzer.
Diese Kräftemessen wiederholte sich einige Male. Oft am Samstagmorgen, wenn ich mich allein wähnte, kam er mir entgegen, drohte mit erhobener Faust oder schaute gänzlich weg, wenn wir aneinander vorbei fuhren.
Irgendwann im Frühling kippte meine Stimmung. Vielleicht lag es an der Sonne, die inzwischen schon hoch am Himmel stand, an den vielen Blüten, die den nahenden Sommer verkündeten. Ich weiß es nicht mehr. Vielleicht auch daran, dass er einige Samstage nicht aufgetaucht war und ich ihn begann zu vermissen. Als er mir nach mehreren Wochen eines Tages wieder entgegen
kam, freute ich mich so darüber, dass ich ihm lachend zuwinkte. Noch jetzt sehe ich die Irritation in seinem Blick. Ich war extra langsam gefahren und hatte ihm viel Platz gelassen. Eine interessante Erfahrung, ganz offensichtlich für uns beide. Ab diesem Tag fuhren wir bei jedem Zusammentreffen beide gemächlich am Wegrand, ließen uns genügend Platz und das freundliche Zuwinken wurde bald allsamstäglich. Begegnete ich ihm nicht, vermisste ich ihn, sahen wir uns, war ich zufrieden und beruhigt.
Er begleitete mich freundlich durch das Jahr, im Frühling lächelnd mit Hut, im Frühsommer so manches Mal mit
Sonnenbrand auf Nase und Ohren. Als die Sonne morgens schon sehr hoch stand, hatte er zum Schutz aus dünnen Latten ein Sonnendach über seinen Kutschbock angebracht.
Ich wurde immer neugieriger, was er für ein Mensch war. Was trieb ihn an, am frühen Morgen mit der Kutsche über die Felder zu fahren? Tat er das für sein Pferd oder liebte er einfach die sich ständig wandelnde Natur? Immer häufiger ertappte ich mich dabei, dass ich mir wünschte, neben ihm zu sitzen. Sorgen und Arbeit zu vertagen und auf dem kleinen Wagen der Sonne entgegen zu fahren.
Mein Mann, dem ich längst von meinem
alten Freund erzählt hatte, versuchte mich immer wieder zu ermutigen. Ich solle einfach mal anhalten und versuchen mit ihm ins Gespräch zu kommen. Gewagt habe ich es nie, es blieb immer beim freundlichen, später vertrauten, Grüßen.
Meine Erinnerungen ziehen weiter zu einem wunderschönen Wintertag.
Es war kurz vor Weihnachten und mein Wegbegleiter trug ein Nikolauskostüm, wie man es beim Kostümverleih bekommen konnte. Es schneite leicht, der Morgen dämmerte gerade und die kleine Kutsche fuhr an diesem Tag auf dem Feld und nicht wie sonst auf der Straße. Wie in einer Schneekugeldrehten Pferd und
Kutsche Kreise, das Schauspiel wurde mit leichtem Schneefall bepudert und zum ersten Mal blieb ich einige Zeit stehen, weil ich mich von diesem friedlichen Anblick nicht losreißen konnte und wollte. Kindheitsträume vermischten sich mit Sehnsucht nach Ruhe und Atempause…
Als ich in der Ferne den Krankenwagen höre, streiche ich noch einmal sanft über die Hand des alten Mannes und steige vom Wagen herab. Der eintreffende Notarzt unterbricht unsere Zweisamkeit. Die Stille wird schnell unerträglich laut, rege Geschäftigkeit setzt ein und mit einem letzten Blick in das Gesicht
meines Freundes habe ich das Gefühl, sein verschmitzte Lächeln ist verschwunden. Der Sanitäter schiebt mich zur Seite, nachdem ich seine Frage verneine, ob ich eine Angehörige sei.
Erst als ich wieder in meinem Auto sitze, lasse ich meinen Tränen freien Lauf.
Warum bin ich plötzlich so unsagbar traurig?
Ist es, weil ich verpasst habe, meinen alten Mann kennen zu lernen oder ist es diese glückliche Traurigkeit, da ich die Chance hatte, mich von ihm in seinem letzten Moment zu verabschieden?
© Memory (2016 / 2020)