Die Konjunkdiva erzählt
ach, liebe Leser, wenn sie wüssten, wie wohl ich mich fühlte, gäbe es noch die Zeiten, in denen alle Poeten und Bildungsbürger von meinen anmutigen Formen schwärmten. Sie liebkosten meine äs, ös und üs, drängen tief in meine Möglichkeiten ein und ergründeten meine letzten Geheimnisse. Sie läsen mir die Wünsche von den Lippen ab, bögen sich über meinen schönen Leib, flüsterten mir irreale Geheimnisse ins Ohr, lögen charmant wie Mephisto, bliesen meine Sinne zu immer neuen Varianten der Einbildungskraft an, flögen mit mir in
nie geahnte Himmel und verlören sich in abgrundtiefer Leidenschaft.
Aber man schwämme in Selbstmitleid, gewönne keine Achtung und hülfe sich selbst nicht, dächte man nur larmoyant über die alten Zeiten nach.
Nein, seien wir offen für eine neue Zeit der Poesie. Stellen Sie sich vor, wir strichen alle alten Regeln und fingen wieder ganz von vorne an. Jetzt öffneten sich die Horizonte für mich, für alle nie gedachten Vorstellungen, für den Irrealis, der in der Welt des Konjunktivs nie gesehene Blüten triebe, für ungeahnte Wünsche, die alle Herzen
verbänden. Alle Musen inspirierten natürlich mich. Taufrische Motive flössen in die Seelen der Dichter, unverbrauchte Themen fielen vom Himmel, die schönsten Klänge schlössen sich zusammen, Metren tanzten nach unerhörten Rhythmen, Reime schmiegten sich in lauschende Ohren, Kritiker sängen Hymnen und über allem schwebte ich in Seligkeit, die Konjunkdiva, die das Füllhorn aller Musen in verschlossene Seelen gösse.
Ach, geneigte Leser, ich stürzte in tiefe Verzweiflung das reale Blei des Indikativs hängt an meinen Füßen und droht mich hinabzuziehen - wäre ich
nicht sicher, dass einige von Ihnen mich trügen mit ihrer Sympathie in den leichten Lüften der Fantasie.
© Ekkehart Mittelberg, Februar 2016