Rückkehr
Als er die Eingangshalle betrat, schlug ihm die Einsamkeit entgegen, gleich einer dunklen Woge, die ihn niederzureißen drohte. Er schloss den schweren Holzverschlag leise und lehnte sich erschöpft gegen die raue Oberfläche. Den Kopf zurück geneigt, schloss er gequält die Augen. Versuchte Kraft zu sammeln, für das was nun vor ihm lag.
Stille umgab ihn, wie ein schwerer Mantel, der ihn langsam niederdrückte.
Ihr Geruch hing noch in den schweren, dunkelblauen Brokatvorhängen vor den Nischenfenstern. Ein hauch Lavendel mit
zarter Orangennote. Niemals würde er ihren Duft vergessen, der seine Sinne, vom ersten Moment der Begegnung an, berauscht hatte.
Ihr Lachen hallte in seinem Kopf wieder, wieder und wieder. Melodisch und klar, so als splitterte es von den gemauerten Wänden direkt in sein Herz.
Ruckartig schlug er die Augen auf.
Herrgott, reiß dich zusammen Jannes.
Wütend schlug er die geballte Faust gegen das harte Holz der Tür und stieß sich schließlich mit einem leisen Aufstöhnen ab.
Er hätte nicht zurückkehren sollen, an diesen Ort, wo die Uhren still zu stehen schienen. Diesen Ort, der nichts als
Schmerz und Leid für ihn barg.
Kisten und Koffer standen gepackt und aufgereiht, unterhalb des ausladenden Treppenhauses, bereit von den Möbelpackern abgeholt zu werden. Helens persönlichste Dinge waren schon vor Wochen zusammengepackt und abtransportiert worden. Er hatte es vorgezogen, an diesem Tag nicht zu Hause zu sein.
Seine Schritte hallten auf dem dunklen Steinboden wie Schläge durch das leere, leblose Haus, brachten die Luft, um ihn herum, zum vibrieren und sein Innerstes zum erzittern.
Der letzte Akt in diesem Bühnenstück, durchfuhr es ihn, als er langsam den
Komplex durchmaß und in den abgedunkelten Salon trat.
Die Vorhänge verdunkelten den Tag, der sich dennoch vereinzelt durch das Panoramafenster stahl. Hin und wieder fanden Sonnenstrahlen ihren Weg in den hohen Raum. Staubpartikel tanzten in dem grellen Licht, wie ein Schwarm Mücken.
Sein Blick schweifte durch die Räumlichkeit. Ein Großteil der Möbel war bereits abgedeckt. Verhangen, mit weißen Tüchern, um sie vor dem Verfall durch Staub und Tageslicht zu schützen.
Der Zahn der Zeit nagte an allem.
Auf der Ummauerung des Kamins stand eine einzelne Fotografie. Fast so, als
habe man vergessen, sie während der aufwendigen Räumungsarbeiten zu verstauen. Zögernd trat er darauf zu, schon ahnend, womit er sich da konfrontierte, und nahm sie genauer in Augenschein.
Ein scharfer Atemzug entglitt ihm, als er erkannte was dort stand.
Mit geneigtem Kopf, presste er sekundenlang Daumen und Zeigefinger auf die Augenlieder, um nicht die Beherrschung zu verlieren. Wut, Trauer und Schmerz rangen zu gleichen Teilen in ihm, zwangen ihn fast in die Knie, so dass er haltsuchend nach dem gemauerten Stein griff um sich daran fest zu halten. Welcher Trottel hatte ausgerechnet
dieses Bild dort stehen lassen?
Er schluckte schwer, bevor er die Augen öffnete und das, in Gold gerahmte, Lichtbild wieder in Augenschein nahm.
Es zeigte ihn selbst und Helen, zwölf Jahre zuvor, am Tage ihrer Hochzeit.
Damals hatte das Leben verheißungsvoll vor ihnen gelegen. Glück leuchtete aus Helens dunklen Augen. Augen in denen er sich einst verloren hatte, dunkel wie ein Bergsee bei Nacht, in dem sich das Licht einzelner Sterne brach. Ihr fast schwarzes Haar fiel schleiergleich bis auf die schlanke Taille und bildete einen scharfen Kontrast zu dem schneeweißen Kleid. Sie war so schön gewesen an diesem Tag.
Damals hatte er geglaubt, das Leben hielte den Himmel für sie bereit, nicht ahnend, wie schnell diese Illusion erste Risse bekam.
Ein Schmerz, auf den er nicht vorbereitet war, traktierte seine Eingeweide, so als bearbeite jemand sein Innenleben mit einer scharfen Waffe. Um Atem ringend und nach Erlösung suchend, wandte er sich abrupt ab und steuerte auf das Siteboard zu, in dem sich die letzten Jahrzehnte die Hausbar befunden hatte.
Mit ein wenig Glück würde er dort noch einen Tropfen Alkohol finden, der sein aufgerührtes Gemüt zur Ruhe brachte.
Verflucht Jannes, was tut du hier, schalt er sich im Stillen. Während er die
verspiegelte Tür öffnete, ergoss sich sanftes Licht in den Raum. Fast so, als hätte ihn jemand erwartet, stand dort eine Flasche Chateau la Fleur und zwei Rotweingläser, nebst Korkenzieher bereit. Sich der zitternden Hände überaus bewusst, entkorkte er den Wein und schenkte sich reichlich von der dunkelroten Flüssigkeit ein.
Erfüllt von dem brennenden Verlangen, die quälend lauten Stimmen in ihm zum schweigen zu bringen, hob er das Glas und führte es an die Lippen.
Er wusste, Rotwein brauchte Zeit, musste atmen. Doch Angst davor, jeden Moment die Kontrolle zu verlieren und einen Zusammenbruch zu erleiden, hinderte ihn
daran gebührlich zu verharren, bis das edle Getränk die richtige Temperatur maß.
Schwer sank er in den Sessel, welcher in unmittelbarer Nähe stand.
Er kam nicht umhin, erneut das Unbegreifliche zu analysieren. Sie war fort. Hatte ihn verlassen. Zurückgelassen. Wut loderte als züngelnde Flamme auf, schien das Gefühl der Liebe gänzlich zu überdecken. Gut, das war gut. Solange er Wut spürte, spürte er Leben. Adrenalin peitschte durch seine Adern, trieb den Puls an, getragen von dem berauschenden Wein, der langsam den Verlustschmerz dämmte. Großzügig schenkte er sich von
dem rubinroten Traubennektar nach.
"Warum Helen? Warum bist du gegangen?" Rau schleuderte er die Worte dem Bild entgegen, das ihn zu verspotten schien.
"Für immer," flüsterte er. "Hatten wir uns das nicht versprochen..?" Seine Stimme brach, er sank zurück und schloss die Augen, während Bilder, gleich dem Soundtrack seiner Ehe, völlig ohne Vorwarnung, auf ihn einstürzten und eine Flutwelle aus Schmerz und Verzweiflung in ihm aufbrandete.
Von der Halle her erklang ein Geräusch.
Er richtete sich auf, verharrte still, mit angehaltenem Atem.
Schritte hallten durch das Haus. Das
vertraute Geräusch von Absätzen, die mit sicherem Schritt den Eingangsbereich durchmaßen.
Jannes erstarrte innerlich, während sein Herz einen rasanten Galopp anfeuerte, der ihn schwindeln ließ.
Konnte es sein... Nicht eine Sekunde hatte er gewagt daran zu glauben. Es war unmöglich. Er durfte sich dieser Illusion nicht hingeben. Denn das Wissen um das bittere Erwachen, brachte schon jetzt tiefes Leid mit sich.
Als das Geräusch verstummte, wandte er zögernd den Kopf zum Türrahmen.
"Mein Gott," seine Stimme vibrierte als er sich langsam erhob, den Blick nicht vom Türbogen abwendend.
"Du bist es," sagte er leise. "Du bist es wirklich."
Sie schenkte ihm ein zärtliches Lächeln, das die Dunkelheit in seiner Seele vertrieb und erste Lichtschimmer einließ.
"Natürlich bin ich es. Hast du etwa jemand anderen erwartet." Ein neckender Unterton klang aus ihren Worten heraus, als sie langsam auf ihn zutrat. Um den Hals trug sie jenen Schal, den er ihr im letzten Jahr zum Weihnachtsfest geschenkt hatte, aus senffarbenen Seidenbrokat.
Die Farbe hob den Kontrast ihrer Augen auf besondere Weise hervor.
Ein erstes Lächeln lockerte seine Lippen auf. Noch immer schlug sein Herz einen
so harten Rhythmus gegen seinen Brustkorb, dass er eine leichte Übelkeit verspürte, aber um nichts in der Welt, wollte er diesen Moment eintauschen. Jenen Moment von dem er nicht mal gewagt hatte zu träumen.
"Woher kommst du ," flüsterte er leise, als sie ganz dicht bei ihm stand.
"Was glaubst du?" fragte sie eben so leise, hob den Arm und strich ihm eine Strähne seines dunkelblonden Haares aus dem Gesicht. Die Berührung ließ ihn erschauern. Er schluckte hart und schloss gequält die Augen, in dem Bemühen seine Gefühle, die tief in seiner Brust rangen, vor ihr zu verbergen.
"Sieh mich an Jannes." Der raue Klang
ihrer Stimme verursachte ihm noch immer eine Gänsehaut. Ihre Stimme war es gewesen, die ihn auf Anhieb fasziniert hatte. Rauchig und doch sanft, strich sie über die Wunden seiner Seele, die nicht einmal begonnen hatten zu vernarben.
Er kam ihrem Wunsch nach und hob die Lieder.
"Mein Gott Helen, du hast mir so gefehlt." Ohne weiter darüber nachzudenken, streckte er die Hand aus und legte sie an ihre Wange. Unendlich vertraut, warm und weich spürte er ihre Haut unter seinen Fingern. So, als sei sie nie fort gewesen.
"Warum hast du mir das angetan?" heiser drangen die Worte aus der Tiefe seines
Herzens.
"Warum bist du fort gegangen?"
Einige Atemzüge lang sah sie ihn schweigend an. In ihren unergründlichen, nachtschwarzen Augen, lag ein Ausdruck, den er nicht zu deuten vermochte, doch als sie sich auf die Zehenspitzen hob, ihre Arme in seinem Nacken verschränkte und seinen Kopf zu sich herab zog, lösten sich all die aufwühlenden Gedanken in seinem Innern auf. Was blieb war das Fühlen.
Warm und weich strichen ihre zartrosa Lippen über die seinen, während ihre Hände sich im Ansatz seines Haares verfingen. Er umschloss ihre Taille seinerseits mit beiden Armen und zog
ihren zarten Körper fest an sich. Ausgehöhlt von dem Schmerz der vergangenen Wochen und dem starken Verlustempfinden erwiderte er ihren Kuss mit einem Hunger, der ihn selbst erschreckte.
Nach Atem ringend ließ sie schließlich von ihm ab und neigte den Kopf zurück um ihm in die Augen sehen zu können.
Zart berührte sie mit den Fingerspitzen die dunklen Ränder unter seinen Augen.
"Du siehst müde aus, Liebster. Und du hast abgenommen." Sorge klang in ihren Worte. Ein warmer Schauer durchrieselte ihn.
"Du musst mehr schlafen und essen, Jannes. Ich möchte nicht das du krank
wirst, hörst du?"
Er nickte ergeben und legte seine Stirn an die ihre. Ihr so nahe zu sein, sie zu spüren, ihren Duft zu atmen, den vertrauten Geruch von Orange und Lavendel, ließ die vergangenen Wochen wie einen bösen Albtraum erscheinen.
"Ich liebe dich, Helen. Das wird nie aufhören, egal wie sehr ich mich auch dagegen wehre, wieviel Wut in meinem Herzen auch ringen mag. Das Gefühl meiner tiefen Liebe überlagert alles."
Sie sagte nichts, doch er spürte ihr Lächeln. Das Lächeln, dass er so sehr liebte. Ihr warmer Atem streifte sein Kinn, während ihre Hände sich behutsam unter seinen Wollpullover schoben und
warm die bloße Haut darunter berührten. Er stöhnte verhalten auf, bei all den Gefühlen, die ihn fortzuschwemmen drohten. Konnte es möglich sein, dass seine Zuneigung zu ihr noch um ein vielfaches gewachsen war? Die Trennung hatte ihm mehr als deutlich vor Augen geführt, das ein Leben ohne Helen keinen Pfifferling wert war. Sie war seine Sonne, um die er kreiste. Die Luft die er atmete. Die Medizin, die ihn auf wundersame Weise heilte.
"Ich lass dich nicht mehr los. Nie mehr, hörst du?" Seine Stimme klang atemlos und rau, hallte von den seidentapezierten Wänden und schnitt ihm schmerzhaft in das eigene Herz.
"Das musst du auch nicht." Zärtlich strich sie mit dem Daumen über sein unrasiertes Kinn.
Er schüttelte leicht den Kopf und sah sie eindringlich an.
"Das heißt, du gehst nicht . Du bleibst?"
Sie nickte versonnen.
"Für immer und ewig. Genau so, wie ich es dir einst versprochen habe, Liebster."
Erleichterung flutete seine Eingeweide, so das er einen Moment glaubte, seine Beine versagten ihm den sicheren Stand.
"Mein Gott Helen, du ahnt nicht, was ich durchgemacht habe in den letzten Wochen. Ich dachte, ich hätte dich für immer verloren."
"Darum bin ich hier, Jannes. Um dich
von dieser Last zu befreien. Ich habe dich nie verlassen.
Und ich werde nirgendwo hingehen, wo du nicht bist." Mit beiden Händen rahmte sie sein Gesicht ein. "Glaubst du mir? Vertraust du mir?"
"Ja," flüsterte er über ihren Lippen und senkte den Kopf um die ihren in einem leidenschaftlichen Kuss zu teilen. Sie schmeckte nach Honig und Zimt. Unglaublich süß und unendlich vertraut. Es war wie die Heimkehr nach einer langen, zehrenden Reise. Jannes wusste nicht, wie lange sie dastanden, einander in den Armen hielten, sich küssten, den anderen berührten, einfach nur einander spürten. Irgendwann schenkte er ihr von
dem Chateau ein. Lachend nahm sie das Glas entgegen. Welch ein Zufall, dass ihr edler Gönner ausgerechnet Helens Lieblingssorte zurückgelassen hatte. Sie lachten ausgelassen über alte Geschichten, erzählten von Sommerfesten im Park, langen Nächten am See und ließen sich während dessen nicht eine Sekunde aus den Augen. Immer wieder berührte Jannes ihr Gesicht, ihre Hände, strich mit den Fingern durch das lange, dunkle Haar um sich zu vergewissern, dass sie auch tatsächlich hier, bei ihm, saß. Ihre Schönheit berauschte ihn mehr als der Genuss des Weines. Ihre Nähe zu spüren kam der Glückseligkeit gleich. Noch
immer erschien ihm all dies wie ein Wunder, nach den langen Wochen der Trennung.
In der Halle schlug die große Standuhr zur vollen Stunde.
Jannes schlug benommen die Augen auf. Verdammt, er musste eingeschlafen sein.
Draußen hatte sich der Tag verdunkelt und die Nacht brach herein. Ein Frösteln überzog seinen Körper, im Salon war es empfindlich kalt.
Er sah sich um, doch Helen war nirgends zu sehen. Ein Gefühl tiefster Beklemmung nahm seine Brust in die Zange, engte seine Atemwege ein. Für einen entsetzlichen Moment befürchtete er, zu ersticken. Eine untrügliche
Gewissheit befiel ihn, lähmte seine Glieder, sein Denken und Fühlen.
Sie war fort. Unwiederbringlich.
Ein Brennen durchzog seine Eingeweide mit solcher Intensität, dass er sich sekundenlang darunter zusammenkrümmte.
Er verfluchte sich im Stillen, für den reichlichen Alkoholgenuss, der schließlich dazu geführt hatte, dass er eingeschlafen war. Sein Schmerz hatte ihm eine Phantasie vorgegaukelt und Helen von den Toten auferstehen lassen.
Das zweite Glas hatte ihm das Genick gebrochen und ihn in die Abgründe bittersüßer Träume verbannt.
Helen war tot. Seit zwei Monaten, sieben
Tagen und elf Stunden. Wann würde er das endlich bergreifen? Wann würde sein Herz begreifen, dass sie ihn verlassen hatte? Das sie ihn im Stich gelassen hatte, an jenem Morgen, als sie in aller Herrgottsfrühe aufbrach um ihn mit frischen Brötchen für den Sonntagstisch zu überraschen. Er hatte noch geschlafen und war wenige Stunden später, durch das beharrliche Klingeln an der Haustür, geweckt worden. Ein tragischer Autounfall, hatten die uniformierten Beamten, welche mit betretenen Mienen vor der Tür standen, gesagt. Sie hatte versucht einem Reh auszuweichen und war dabei von der Straße abgekommen. Seither war der
Schock, der sich wie schleichendes Gift in seinen Blutbahnen ausbreitete, nicht mehr von ihm gewichen.
Wütend erhob er sich und schleuderte das Rotweinglas, mit der ganzen Kraft die er besaß, gegen den Kamin. Feine Splitter perlten in alle Richtungen davon und brachten die Fotografie gefährlich ins wanken, doch sie fiel nicht.
"Es ist Zeit zu gehen, alter Junge," schalt er sich selbst. Zeit die alten Geister ruhen zu lassen. Er wandte sich um und war gerade im Begriff den Barschrank zu schließen, als sein Augenmerk auf den zweite Rotweinkelch fiel. Am Grund des zarten Glases zeigten sich feine, rosa Schlieren. Er griff danach und hob es ins
Licht.
Ein eisiger Schauer erfasste ihn, rann den Rücken hinab und ließ ihn erzittern. Das Glas war benutzt. Eindeutig. Reste des erlesen Rotweins hafteten an den dünnen Wänden, doch noch deutlicher hob sich die feine Spur Lippenstift am oberen Rand hervor.
"Helen," flüsterte er rau, hob den Kopf und sah sich um. Doch sie war nicht da. Sein Ruf hallte vervielfältigt von den Wänden wieder, aber er verklang ungehört.
Zärtlich strich er mit dem Daumen über das Glas und schloss einen Moment die Augen, versuchte die intensiven Bilder seines Traumes herauf zu beschwören.
Der zarte rosa Schimmer auf ihren Lippen. So lange er sie kannte, hatte sie nie eine andere Farbe getragen. Ebenso war es auch heute Abend in seinem...seinem Traum gewesen.
Behutsam schob er das Glas in den Schrank zurück und ließ die Klappe mit einem leisen Schnalzen einrasten.
"Für immer und ewig," hauchte er leise, bevor er sich umdrehte und im hinausgehen einen letzten Blick auf das Hochzeitsfoto warf.
"Was machst du nur mit mir, mein Engel?" Er schluckte schwer an den Tränen, die ihm die Kehle zuschnürten, als er die Halle betrat, in der nur noch ein Notlicht brannte. Doch die spärliche
Lichtquelle genügte, um Jannes sicheren Fußes zur Haustür zu bringen. Als er die Hand ausstreckte um nach dem Messing Knauf zu greifen, streiften seine Finger die Textur kühlen Stoffes. Erschrocken, so als habe er sich verbrannt, zuckte er zurück und verharrte einen atemlosen Moment still. Ganz vorsichtig griff er nach dem edlen, senffarbenen Schal, welcher an der Türklinke hing. Sein Puls beschleunigte sich in rasantem Tempo, während sein Herz ihm donnernd in der Kehle schlug. Ungläubig schüttelte er den Kopf als er das Seidengewebe durch seine Hände gleiten ließ.
"Du warst es." Er hob die Hand an sein Gesicht und drückte den Schal fest an
seine Wange. Der Duft von Lavendel und Orangen klärte seine Sinne.
"Du warst da, Helen, bei mir."
Eine Träne löste sich aus seinem Augenwinkel und rann langsam die Wange hinab.
"Ich werde nirgendwo sein, wo du nicht bist."
Ihre Worte hallten in seinem Herzen nach, als er die schwere Holztür hinter sich in Schloss zog. Nächtliche Dunkelheit umfing ihn. Wind frischte auf und trieb eine kühle Böe vom See her mit sich . Langsam stieg er die Stufen hinab, das Tuch fest an sein Herz gepresst und steuerte auf den, in der Nachtschwärze wartenden, Wagen zu. Sie hatte ihn nicht
verlassen. Natürlich nicht. Wie hatte er auch nur eine Sekunde an ihrer Treue und Loyalität zweifeln können. Helen war bei ihm, solange er lebte, wohin er auch ging.
-Ende-
(C) Februar 2016 /Meereswind