nachtschicht
Vanessa saß an ihrem Frühstückstisch und nippte an ihrem schwarzen Kaffee. Goldene kleine Bläschen tanzten über die pechschwarze Oberfläche und hypnotisierten sie für ein paar Augenblicke. Vanessa schüttelte ihre Gedanken aus ihrem nachtgeschundenen, sich nach Schlaf sehnenden Kopf und versuchte sich langsam auf den anstehenden Termin mit Frank vorzubereiten. Sie hatte einen Großteil der Nacht damit verbracht, sich nochmal tief in Franks Akte zu lesen und sicherzustellen, dass sie nichts übersehen
hat. Sie versuchte jeden Trick, den sie kannte, um die Perspektive zu ändern, aus welcher sie die Akte las. Sie stellte alles in Frage, versuchte alternative Erklärungen für alles Handeln zu finden. Sie versuchte Frank zu verstehen. Um halb drei in der Nacht verstand sie, dass sie auf diese Weise nicht weiterkommen würde. Sie würde Frank nicht auf Grund seiner Akte verstehen. Es gab im Moment nur einen Weg an Frank heranzukommen. Er hatte eine Forderung gestellt, und diese musste Vanessa bedienen. Das war der Weg, mit den besten Aussichten auf Erfolg. Allerdings stand ihr Ruf als Preis in
Gefahr. Frank spürte etwas und Vanessa war sich sicher, dass er eine ganz spezielle Geschichte hören wollte. Er würde es spüren, wenn sie nicht das Schwärzeste aus Ihrer Vergangenheit an die Oberfläche spülen würde. Es schien als wüsste er etwas, aber das war ausgeschlossen. Er konnte es nicht wissen und wenn, so gab es keinen Grund es aus ihr herauszupressen. Vanessa war auf einmal schwindelig. Sie war erschrocken, welche Macht er über sie hatte.
Nachdem sie sich eine weitere Tasse heißen Kaffee eingegossen hatte, nahm
sie sich einen Stift und einen Notizblock und begann ihre Geschichte zu notieren. Noch während sie schrieb korrigierte und manipulierte sie die Story auf eine Weise, mit der sie glaubte nicht alle Hüllen fallen lassen zu müssen. Vanessa schrieb eine volle Stunde lang. Sie verbrauchte zwanzig Seiten. Vieles war gestrichen und ab der zehnten Seite war die Schrift merklich schlechter geworden. Lose Strähnen fielen ihr ins Gesicht und verklebten mit den Tränen, welche ungehemmt über die heißen Wangen liefen und auf das Papier mit Vanessas dunkelsten Geheimnissen tropften. Es war fünf Minuten nach fünf
Uhr, als Vanessa den Stift neben den Block legte und für eine gute Stunde den wohl tiefsten und erholsamsten Schlaf ihrer vergangenen Jahre erlebte.
Als die Sonne über den Horizont kroch und die Welt in einem leuchtenden Orange aufleuchten lies, huschte ein leichtes Lächeln über das sonst bewegungslose, sich im Tiefschlaf befindliche Gesicht von Frank, während Vanessa von einem eiskalten Schauer überzogen wurde.