Mein Name ist Marlene und ich bin 8 Jahre alt.
Ich lebte mit meinen Eltern in einem kleinen Dorf, bis ich mit 6 Jahren an den Pastor verkauft wurde und oben auf der Burg leben musste. Bis zu diesem Zeitpunkt war ich glücklich. Wir hatten nicht viel, aber wir hatten uns.
Ich weiß noch, dass meine Mutter auf den Knien lag, schrie und weinte, als sie mich ihr weg nahmen, aber ändern konnte sie es nicht. Mein Vater hatte sie festgehalten und immer wieder gesagt, dass es besser so sei. Besser? Für wen war es… besser?
Zwei Jahre lebte ich auf der Burg, bis ich starb.
Nachdem sich Lotta aus den Graben befreit hatte, strich sie noch einmal ihr Kleid glatt und schaute zurück in den Innenhof der Burg, welcher dunkel und verlassen war. Ihre Neugier, zusehen wohin die Schafe eilten, war so groß, dass sie beschloss ihnen zu folgen. Weit kam sie jedoch nicht. Gerade als sie den Weg verlassen wollte und somit auch das nähere Gelände der Burg, verspürte sie einen plötzlichen und unsagbar starken Schmerz auf ihrem rechten Unterarm. Lotta schrie auf, krümmte sich vor Schmerzen und hielt den Arm an ihren Bauch gepresst. Es fühlte sich an, als würde dieser jeden Moment zerspringen und er brannte wie Feuer. Nach einem
kurzen Moment und als der Schmerz etwas nachließ, schob Lotta vorsichtig den Ärmel ihres Kleides hinauf und erschrak erneut. Auf ihrem Unterarm prangten drei leuchtend rote Striemen. Sie erinnerte sich an Peters Hand, die genauso aussah, nachdem der Lehrer ihn mit dem Rohrstock gemaßregelt hatte. Tränen rannen ihr über das Gesicht und legten die Welt in einem Schleier. Gerade als sie zurück zum Burgeingang schaute, dachte sie das Mädchen aus der Kirche gesehen zu haben, doch beim nächsten Wimpernschlag war es wieder verschwunden. Langsam zog sie den Ärmel hinunter, als auch schon die Glocken läuteten. Während sie zurück
zum Tor ging, zählte sie die Schläge mit und sah gerade noch rechtzeitig den Priester aus dem Kirchenraum auf den Innenhof treten. Mit einem Blick, der einen das Mark in den Knochen gefrieren ließ, schaute er sie an und brachte sich vor der Tür in Position. Die Gläubigen traten hinaus und gaben ihm zum Abschied einen Handkuss. Mutter hatte ihr erklärt, dass dies so üblich sei, da der Priester einen geweihten Ring mit einem Holzstück vom Kreuz Jesu trug. Sie erhofften sich dadurch Vergebung ihrer Sünden und ewige Gesundheit. Beim Anblick dieser Darbietung wurde Lotta schlecht und sie musste sich übergeben. In diesem Moment standen
auch schon ihre Eltern neben ihr. Mit erschrockenen Augen schaute die Mutter sie an, sagte jedoch kein Wort. Sie strich ihrer Tochter eine Strähne aus dem Gesicht, zog sie leicht an sich und sagte: „Es wird Zeit nach Hause zu gehen.“
In den darauffolgenden Tagen verblassten die Striemen auf Lottas Arm immer mehr. Der Mutter hatte sie gesagt, dass sie gestürzt sei, als die Schafherde an ihr vorbei gelaufen ist.
In den Nächten träumte Lotta immer wieder von der Burg und dem Mädchen. Nicht selten wachte sie schweißgebadet auf und benötigte einige Sekunden, um sich wieder zurecht zu finden. Auch in
ihren Träumen gelang es ihr nie einen Blick auf das Gesicht des Mädchens zuwerfen. Es stand immer viel zu weit weg oder von ihr abgewandt. Manchmal glaubte sie leise eine Stimme wahrnehmen zu können, aber bei genauerem Hinhören und wenn sich ihr Herzschlag wieder beruhigte war es still.
Lotta sehnte den Tag herbei, an dem sie sich wieder zur Burg aufmachten. Sie hatte sich fest vorgenommen, das Gebet falsch aufzusagen, obwohl sie es ihren Eltern immer richtig vortrug. Auch wenn dies eine Schmach für ihre Familie bedeutete und sie sich den Spott der Leute gewiss sein konnte. Lotta wollte unbedingt den Innenhof der Burg
erkunden und hoffte so etwas über das kleine Mädchen erfahren zu können. Vielleicht würde sie ja sogar auf sie treffen und könnte ihr all die Fragen stellen, die ihr seit dem letzen Mal durch den Kopf schossen! Bei dem Gedanken, dass sie das Mädchen wieder sehen könnte, machte sich eine freudige Spannung in ihr breit und sie konnte es kaum erwarten den Berg hinauf zulaufen.
In der Nacht zum Sonntag konnte Lotta vor Aufregung kaum schlafen. Sie hatte sich ein Kissen vor das Fenster gelegt und sich mit einer Wolldecke zugedeckt. Auf dem Kissen kniend schaute sie hinaus und wartete darauf, dass die
Sonne am Horizont erschien.
Erschrocken zuckte Lotta zusammen, als sie hinter sich einen Knall vernahm. Sie musste wohl eingeschlafen sein und hatte nicht mitbekommen, dass ihre Eltern bereits aufgestanden waren. Es knallte noch einmal und sie konnte es als das Knallen der Stalltür identifizieren. Mit großen Augen sprang sie auf, lief zu ihrem Bett, neben dem sie sich ihr Kleid zurechtgelegt hatte, zog es schnell an und rannte die Treppe hinunter. Ihre Mutter stand in der Küche und war bereits fertig angekleidet und frisiert. Sie schaute sich kurz um und fragte, ob Lotta ihr rufen denn nicht gehört habe, was diese verneinte. Während Lotta eine
Scheibe Brot aß und Milch trank, versuchte die Mutter die Haare ihrer Tochter zu bändigen und ihr einen Zopf zu flechten.
Nur wenige Minuten später stand sie bereits vor der Haustür und sprang von einem Bein auf das andere. „Jetzt kommt schon!“, rief sie in das Haus hinein. Ihre Eltern schauten sich verwundert an ob der Eile die ihre Tochter hatte in die Kirche zukommen, sagten aber nichts und schüttelten nur grinsend ihren Kopf. Noch bevor sie die Haustür verschlossen hatten, war ihr Kind nicht mehr zusehen und nur noch als wirbelndes Etwas in der Ferne zu erkennen. Die Mutter freute sich, dass ihre Tochter zu Gott gefunden
hatte und es scheinbar gar nicht erwarten konnte in die Messe zu gelangen. Wer hätte auch ahnen können, dass sie einen ganz anderen Plan verfolgte.
Je näher Lotta der Burg kam, desto langsam kam sie den Berg herauf. Laut keuchend stand sie da, schaute sich um und musste feststellen, dass sie ganz alleine war. Kurz beschlich sie ein ungutes Gefühl, welches sie jedoch ignorierte und sich mit großen Schritten weiter auf den Weg machte.
Als sie das Burginnere betrat und den ungeliebten Pastor vor der Türe stehen sah, wurde ihr doch unwohl und Lotta beschloss auf ihre Eltern zu warten. Sie
stellte sich ins Tor mit Sicht auf den Innenhof und versuchte sich so viel wie möglich davon zu merken. Schließlich kann es nur von Vorteil sein, wenn sie schon grob wusste, welche Ecken uninteressant erschienen und wo vielleicht geheime Eingänge versteckt sein könnten. Unsanft wurde sie von ihrem Vater aus den Gedanken gerissen, der mit fester Hand ihre Schulter packte und sie voran schob.
Der Pastor schaute missbilligend zu ihr herab, sagte kein Wort und reichte ihren Eltern die Hand zur Begrüßung. Lotta drückte sich an ihnen vorbei und schlich in den großen Raum. Suchend schaute sie sich nach dem mysteriösen Mädchen um,
konnte es aber nirgends entdecken. Ein wenig enttäuscht nahm sie in einer der Reihen Platz. Es beschlich sie die Angst, dass das Mädchen heute vielleicht gar nicht hier sein könnte, allerdings verflog dieser Gedanke sofort wieder, als sie von draußen das Blöken der Schafe hörte. Natürlich! Das Mädchen war heute vielleicht mit anderen Aufgaben bedacht worden. Lotta knibbelte vor Freude an ihren Fingernägeln und konnte es kaum erwarten aufgerufen zu werden. Kaum, dass der Pastor sie nach vorne bat, stand sie auch schon da und begann das Glaubensbekenntnis aufzusagen. Sie hatte sich gut überlegt, an welcher Stelle sie den Fehler einbauen würde und schon
sagte sie mit kräftiger Stimme: „Ich glaube an den heiligen Geist, die römische Kirche….“ Ein Raunen ging durch die Gemeinde, der Pastor sah sie mit großen Augen und hochrotem Kopf an und verwies sie mit einem strengen Fingerzeig des Raumes. Lotta vermied es ihre Eltern anzuschauen, wusste sie doch genau welcher Schmach sie ausgesetzt sein würden. Fest darauf bedacht, nicht zu freudig auszusehen, eilte sie Richtung Tür und verschwand im Dunkeln des Ganges.
Als sie den Innenhof betrat, legte sie schützend einen Arm über ihre Augen, um diese langsam an die Helligkeit zu
gewöhnen. Zuvor hatte sie sich schon genau überlegt, wo sie nach dem Mädchen suchen könnte. Schnellen Schrittes ging sie rechts zu den Türen, hinter denen sich vermutlich die Ställe der Schafe befanden. Neben der ersten Holztür lagen drei Strohballen, die ihr als Versteck dienen könnten, sollte jemand den Innenhof betreten. Vorsichtig sah sie durch ein kleines Astloch der Tür in das Innere, jedoch war nichts zu erkennen. Ganz langsam legte sie ihre rechte Hand auf den Holzbalken, der als Klinke diente und zog die Tür auf. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, so aufgeregt war sie und die kleinen Beine begannen zu zittern. Lotta
spähte behutsam in den Raum, konnte jedoch nichts Ungewöhnliches feststellen. Wie sie geahnt hatte, war es die Unterkunft der Schafe und stank auch dementsprechend streng. Ausgemistet wurde hier scheinbar schon etwas länger nicht mehr, dachte sie sich, schaute sich noch einmal um und ging mit einem tiefen Atemzug hinein. Nachdem sich ihre Augen an das dämmrige Licht gewöhnt hatten, meinte sie einen Umriss im hinteren Teil des Stalles wahrgenommen zu haben. Sie flüsterte ein leises „Hallo“, bekam jedoch keine Antwort. Sich immer wieder umschauend und auf Zehenspitzen wankend ging sie an den Trögen, die in
einer Reihe aufgestellt waren vorbei. Gelegentlich wurde ihr beim Anblick des Mistes und des Geruches etwas übel, aber sie schaffte es stets sich nicht zu übergeben. Schließlich war ihre Neugier und der Wunsch das Mädchen zu finden größer. Im hinteren Teil des Stalles angekommen, befand sich allerlei Gerümpel. Mistgabeln lagen kreuz und quer, auch Eimer lagen herum und waren häufig nicht mehr zu gebrauchen. Als Lotta gerade hinter einen Mauervorsprung ging, um zusehen, was sich dahinter verbarg, sprang mit einem lauten Knall die Stalltür auf. Noch nie in ihrem Leben hatte sich Lotta so erschrocken, wie in diesem Moment!
Voller Panik sprang sie hinter die kleine Mauer, kauerte sich zusammen und verschloss die Augen. Das nächste was sie hörte waren Schritte und das Fluchen eines Mannes. Lotta hielt die Luft an und merkte, dass die Geräusche immer näher zu kommen schienen. Ganz fest kniff sie ihre Augen zusammen, bis sie erneut einen Knall hörte. Als es wieder still geworden war, schnappte sie laut nach Luft und begann zu husten. Mit einem Auge spähte sie in den Stall hinein, konnte jedoch nichts erkennen. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und lief so schnell sie konnte zur Tür zurück. Mit voller Kraft lehnte sie sich dagegen, prallte aber zurück und landete
im Mist der Schafe.
tooshytowrite Richtig spannend! Besonders mag ich die Stelle, als die Kleine die Augen schliesst (damit sie keiner sieht). Ich freu mich auf mehr! |