In ihren eisblauen Augen blitzte die Wut. Beim aufgeregten Auf und Ab Schreiten rutschte ihr die Kapuze des schneeweißen Mantels vom eisgrauen Haar. Von den kristallgleichen Decken des Eispalastes begann es an allen Ecken zu tropfen. Fieberhaft schleppten Zwerge überfüllte Gefäße aus dem Palast. Nach dem Entleeren nahmen ihnen hektisch fliegende Feen die Behälter ab und brachten jene an benötigte Stellen. »Jeden Frühjahrsbeginn ist es das Gleiche«, tobte die Eiskönigin, Herrscherin über die kalte Jahreszeit. Ihre Ausrufe halten von den Wänden zurück. »Ich werde dieser Ungerechtigkeit ein Ende bereiten! Gin spann die Pferde an!« Schwungvoll warf sie ihren Umhang nach hinten. Die
Handbewegung gab einen kurzen Ausblick auf ihr strahlend weißes, mit Silberfäden durchzogenes Kleid frei. Eisblumen verblassten neben dem Glanz. Ein hutzeliger Zwerg hinkte in den Saal. Sein Pelzmantel vor Nässe triefend, erschwerte ihm das Laufen. Wenige Meter vor der Königin verbeugte er sich. »Meine Herrin es ist alles für ihren Ausflug vorbereitet.« Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, schritt sie erhobenen Hauptes vor den Palast. Vor dem silbernen Schlitten trippelten nervös acht Schimmel. Das leuchtend weiße Fell der Tiere, überstrahlte den vom Schnee bedeckten Boden. Das silberglänzende Gefährt, lies wahre Handwerkskunst vermuten. Feinste Verziehrungen verführten
zum längeren Betrachten. Zwei Schneefeen legten der Eiskönigin zum Schutz vor der Kälte eine Decke aus blütenweißem Schaffell über die Beine. Nach einem kurzen Pfiff setzten sich die Pferde in Bewegung. Die Schneedecke wies an einigen Stellen Risse auf. Dort stach der Erdboden heraus. Vereinzelt blitzten unter der weichenden Schneepracht, die ersten Frühjahrsblüher. Frech reckten sie ihre zarten grünen Blättchen dem wärmenden Sonnenlicht entgegen. Was manch menschliches Herz, infolge des entbehrungsreichen Winters erfreut, erzürnte die Eiskönigin in zunehmenden Maße. Sie erreichte einen Fluss. Die steigenden Temperaturen verhalfen dem Wasser seinen Lauf wieder
aufzunehmen. Nur am Ufer trotzte eine dünne Eisschicht den Fluten. Mit einem kräftigen Knall der Peitsche brachte sie die Pferde, zum Stehen. In Begleitung zweier Feen verlies sie die Kutsche und begab sich an einer flachen Stelle an die Böschung des Stromes. Sie berührte mit dem Eiskristallzepter die Oberfläche. In Sekundenschnelle gefror das nasse Element. Befriedigt betrachtete sie ihr Werk. Dann stolzierte sie zurück zu ihrem Gefährt, um ihre Reise fortzusetzen. Jeden Wald, den sie durchquerten, verwandelte die Eiskönigin in ein frostiges Gebilde. Zentimeterdicke Eisdecken zauberte sie auf Seen. Die Erde erstarrte erneut zu steinharten Brocken, so das die Bauern mit den Pflügen, keine
Chance hatten. Das erwachende Leben kam zum Erliegen. Die Tiere litten unter der an dauernden Kälte noch mehr als die Menschen. Bald waren die letzten Fettreserven aufgebraucht und Nahrung fand man in dieser Jahreszeit kaum. Die Kinder, welche zu Beginn des Winters vor Freude aus dem Häuschen, langweilte es in den Stuben. Ja selbst den Mäusen, die sonst, dank der gefüllten Vorratskammern der Zweibeiner nicht an Hunger leiden mussten, knurrte der Magen. Die Kammern leerten sich zusehends. Weihnachtsmänner so prachtvoll geschmückt, beraubten die Ärmsten ihrer Kohlestücke und Karotten. Das eine zum Wärmen, das andere für die Suppe. Eine Zeit des Elends brach über alle
Lebewesen herein.
Unterdessen versammelten sich im Wald die Tiere. Gemeinsam beratschlagten sie, was zu tun sei. Sie beschlossen, eine Delegation zu der Königin des Frühlings, zu schicken. Der Fuchs wegen der besonderen Schläue, die Eule weise und klug, sowie der Hirsch mit seinem majestätischen Auftreten, traten die Reise an. Nach einem tagelangen entbehrungsreichen Marsch erreichten die Drei das Reich des Frühjahrs. Schneeglöckchen, Krokusse und Narzissen säumten den Weg zum Schloss. Elfen in grün weiß gestreiften Kleidchen empfingen die müden Wanderer. Sie führten die Gefährten in einen Saal, an dessen apfelgrünen
Wänden eine Blütenpracht den Anwesenden zum Verweilen einlud. Ein lieblicher Duft erfüllte den Raum. Versunken in die Betrachtungen eines blühenden Kirschzweiges, stand eine zierliche Frau am Ende der Räumlichkeit. Sie trug ein Gewand aus grüner Seide bestickt mit zarten Blütenblättern. Bei jeder Bewegung erschien es, als ob die Blüten sanft im Wind wiegten. Ihr kastanienbraunes Haar zierte ein Kranz aus Frühjahrsblühern. Zur Begrüßung verneigten sich die Drei tief. Freundlich lächelnd beantwortete sie den Gruß. Mit einer Handbewegung gab sie ihren Gästen zu verstehen ihr in das Nebenzimmer zu folgen, indem eine kleine Stärkung wartete. Dort erzählten die Reisegefährten der Hoheit
den Grund des Erscheinens. Als die Erzählung geendet, berichtete sie, das ihr die Situation bekannt, sie aber allein nichts gegen die jüngere Schwester die Eiskönigin ausrichten könne. Deshalb schickte sie nach den älteren Schwestern der Herrscherin über den Sommer und der Königin des Herbstes. Jeden Moment müssten sie eintreffen. Sie übergab die Tiere in die Obhut ihres Gefolges, mit dem Auftrag ihnen einen Schlafplatz herzurichten. Bis zum Zeitpunkt einer Entscheidung sollten die Drei Kraft tanken. Bald trafen die Fürstinnen ein. Eine herzliche Begrüßung, dann zogen sie sich zur Beratung in das Innere des Palastes zurück. Mehrere Tage wogen sie das für und wieder ab. Einen Krieg mit der Eiskönigin galt
es zu vermeiden. So beschlossen die Jahreszeiten, der jüngsten Schwester einen Besuch abzustatten. Trotz gründlicher Überlegungen verstand nicht Eine ihr Verhalten. Eine Schwierigkeit gab es noch. Niemand von ihnen besaß einen Schlitten. Bis zur Landesgrenze der Frühjahrskönigin bestand die Möglichkeit eine der Kutschen, zu benutzen. Aber keines der filigranen Gefährte schaffte es, unversehrt durch Eis und Schnee. Glücklicherweise erinnerte eine der Feen an das tief im Wald lebende Väterchen Frost. Jedes Jahr zur Winterzeit begab er sich mit dem Schlitten auf Reise, um die schlafenden Pflanzen und Bäume mit einer wärmenden Schneedecke zu zudecken. In deren Schutz überstanden sie unbeschadet
die frostigen Monate. Doch wer kannte den Weg zu der Hütte? Bald ging ein Raunen durch das Schloss. Es weckte den dösenden Fuchs. Als er den Grund für die allgemeine Unruhe erfuhr, erklärte er das ihm der Weg wohlbekannt. Nach einer kleinen Stärkung brach er auf. Zwei Tage und Nächte dauerte die Reise. Halb erfroren erreichte er das Ziel. Väterchen Frost spannte sofort nachdem ihm Reineke alles gebeichtet die Pferde vor den Schlitten, setzte Gevatter Rotschwanz neben sich und fuhr los. An der Grenze angekommen sprang der Rotbefellte heraus. So schnell ihn seine Pfoten tragen konnten, flitzte er zum Palast zurück. Völlig außer Atem stürzte er in den Saal. Japsend sprach er zu den Herrscherinnen, »Väterchen Frost wartet
an der Landesgrenze. Ihr müsst euch beeilen, die ersten Todesopfer sind schon zu betrauern.« In Windeseile brachen die Königinnen auf. An der Grenze hüllten sie sich in die mitgebrachten Mäntel. Trotz mehrschichtiger Felldecken bibberten die Damen. Frost und Eis kannten sie kaum. Staunend fuhren sie durch verschneite Landschaften. Auf den Fenstern der Häuser bewunderten sie die Schönheit der Eisblumen. Verwundert betrachteten sie Schneefiguren, geschaffen von kleinen Künstlern. Der Liebreiz, der in ein schneeweißes Tuch getauchten Gefilde, verschlug ihnen die Sprache. Als der silberige Mond am Horizont erschien, gelangten sie an das Ziel. Die Eiskönigin saß
hoch erhobenen Hauptes auf dem Eisthron. Mit kalten Blicken begutachtete sie ihre Gäste. Mit einer Stimmlage, die das Blut in den Adern gefrieren ließ, fragte sie,» Was verschafft mir die Ehre eures Besuches?« Ohne eine Antwort abzuwarten, verfiel die Herrscherin des Eises in ein bösartiges Gelächter. Tausendfach warfen die Wände das Echo zurück. Zum Schutz vor dem ohrenbetäubenden Lärm hielten sich die Anwesenden die Ohren zu. Wutentbrannt, schlug Väterchen Frost mit der Faust, auf die in der Mitte des Saales stehende Tafel. Ein leises Klirren, folgte dem ersterbenden Lachen. Durch den Aufschlag stießen die Schneeflocke, welche an kristallenen Kerzenständern herunter hingen, aneinander.
»Wir sind nicht hierhergekommen, um Spielchen zu spielen.«, brüllte er. Ein wenig sanfter fuhr er fort, »Die Welt stirbt, wenn du so weitermachst wie bisher. Deine Schwestern haben den weiten Weg auf sich genommen, um mit dir zu reden. Sie möchten erfahren, was dich zu deinen Entscheidungen bewogen. Vielleicht finden wir gemeinsam eine Lösung.« Dann zog er einen Stuhl hervor und bot der Eiskönigin einen Sitzplatz dar. Widerstrebend folgte sie. Die anderen Fürstinnen nahmen ebenfalls Platz. Ehrfurchtsvoll lauschten sie dem Bericht der Jüngsten. Unter Tränen klagte sie über die jährliche Zerstörung des Eispalastes. Betroffen schauten die restlichen Jahreszeiten einander an. Während
das Väterchen Trost spendete, berieten sich die Drei. Freudestrahlend verkündete die Königin des Sommers die Entscheidung. »Liebe Schwester«, begann sie ihre Ausführungen. »Wir verstehen dich gut. Jede von uns lebt mit ihrem Gefolge in einem wunderschönen Palast. Keinesfalls möchten wir hilflos der Zerstörung unseres Heims zusehen. Die Erde ist groß. Suche dir einen Zufluchtsort. Wir versprechen das von dir auserkorene Reich, zukünftig unter deine Regierungsmacht zu stellen. Regiere dein Land weise und gerecht.« Jubel erfüllte das Schloss. Die Eiskönigin schwor niemals wieder gegen die Regeln der Natur zu verstoßen. Innig verabschiedeten sie sich. Die Herrscherin über das Eis zog mit ihren
Freunden in einen Teil der Welt, in dem kaum Menschen oder Tiere wohnten. Glücklich lebte sie in ihrem neuen Heim. Tag ein Tag aus, herrschten Kälte und Schnee.