Es war vorbei. Mit Schwert und Feuer waren sie gekommen und hatten Zerstörung gebracht, Schwert und Feuer hatten sie wieder mit sich genommen, als sie gegangen waren, die Zerstörung dagegen hatten sie dagelassen.
Chris war am Boden zerstört, körperlich völlig am Ende, und auch seine seelische Verfassung war schlechter denn je. Verständlicherweise, denn was geschehen war, eignete sich keinesfalls für die Augen eines gerade einmal sechszehnjährigen Jungen. Niemand sollte so etwas sehen, denn nirgendwo durfte und sollte so
etwas geschehen. Doch man konnte nichts mehr dagegen unternehmen, jetzt, wo es schon zu spät war, half nichts mehr gegen den tiefen Schmerz oder gegen die schlimmen Erinnerungen.
Der einzige Trost bestand darin, dass der Überfall jetzt vorbei war. Geblieben war nichts, und der Krieg dauerte an. Sicher würden noch einmal welche kommen, vielleicht die gleichen, vielleicht jemand anderes. Im Grunde genommen machte das sowieso keinen Unterschied, das Ergebnis wäre schließlich das gleiche: Tod und Zerstörung.
Der Junge hob den Kopf und ließ ein weiteres Mal den Blick über das zerstörte Dorf schweifen, in der Hoffnung,
vielleicht doch alles nur geträumt zu haben. Er wurde aufs bitterste enttäuscht. Seinem Auge bot sich derselbe Anblick wie schon unzählige Male zuvor: Trümmer, eingestürzte Wände, mannshohe Gesteinsbrocken, gesplitterte Balken, die wie Masten auf dem Deck eines Schiffes aus dem Trümmerfeld hervorragten, und vereinzelt schwelten sogar noch kleine Brände, was jedoch nur selten der Fall war, da der Überfall der Soldaten nun schon einen ganzen Tag zurücklag.
Und das Schrecklichste von allen Dingen, die er zu sehen bekam, waren die Leichen, größtenteils verkohlt, blutig und verstümmelt, die überall im Dorf
herumlagen. Soweit er wusste, war er der einzig Überlebende, zumindest hatte er niemand anderen finden können, obwohl er das ganze Trümmerfeld, das einmal ein Dorf, seine Heimat, gewesen war, wieder und wieder nach seiner Familie, seinen Freunden, nach Irgendjemandem abgesucht hatte.
Eine einsame Träne bahnte sich den Weg von seinem Auge hinab über die Wange und hinterließ dabei eine feuchte Schliere im hellgrauen Staub. Trotzig wischte er sie mit dem Handrücken weg und schniefte laut und vernehmlich, doch niemand konnte ihn hören. Niemand war da. Außer ihm, einem einsamen, alleingelassenen Wächter der
Einsamkeit.
Chris hatte es nicht für nötig befunden, sich zu waschen, ebenso wenig hatte er gegessen oder getrunken, denn er wollte nicht alleine weiterleben, wenn alle anderen tot waren. Er sah keinen Sinn darin, und die Hoffnung, dass außer ihm noch jemand überlebt haben könnte, hatte er inzwischen längst begraben.
Vielleicht lebte außer ihm überhaupt niemand mehr, auf der ganzen Welt nicht, denn es herrschte ja schließlich Krieg. Wie viele Männer mochten wohl schon durch das Schwert gefallen sein? Er wusste es nicht, konnte sich ihre Zahl nicht vorstellen. Aber es mussten hunderte, tausende, ja, unzählige
sein.
Eine weitere Träne trat hervor, als er an seine Familie dachte, seine Geschwister, mit denen er tagein, tagaus gespielt hatte, seine Eltern, die ihm größere Liebe entgegengebracht hatten als irgendjemand sonst auf dieser Welt und die immer für ihn dagewesen waren, wenn er sie gebraucht hatte … und noch eine, und noch eine … Er vergrub das Gesicht in seinem braunen, grob gewebten Pullover und störte sich nicht im Geringsten daran, dass er mindestens genauso schmutzig war wie sein Gesicht. Chris fing hemmungslos an zu weinen und vergaß für eine Weile die schreckliche Welt um sich herum, er war
ganz alleine, mit seinem Schmerz und seiner Trauer.
"Was weinst du denn so, Junge?", drang plötzlich eine Stimme in sein Bewusstsein, die nicht seinen Gedanken entsprungen sein konnte, denn er hatte sie noch nie zuvor gehört, soweit er sich erinnern konnte. Es war eine tiefe, volle Stimme, die ihm in die Ohren dröhnte, trotzdem war es eine freundliche Stimme und keine hässliche, abstoßende, wie sie manchen Männern zuzueignen ist.
Trotzdem zeigte Chris keine Reaktion, der Fremde konnte ihm gern gestohlen bleiben, solange er ihm nicht seine Familie zurückbrachte. Nachdem einige Sekunden verstrichen waren, hörte Chris
ein tiefes, unzufriedenes Brummen, ein zweifellos von dem Fremden erzeugtes Geräusch, das zugleich auch Besorgnis auszudrücken schien.
"Was ist los mit dir, Junge? Bist du verletzt? Haben sie die etwas angetan?", hörte er wieder die Stimme des Fremden, "So sprich doch endlich mit mir!"
Nach einem letzten lauten Schniefen war Chris still, drehte den Kopf ein wenig und schaute durch den Spalt zwischen seinen beiden ineinander verschränkten Armen hindurch. Er sah einen einfachen Pullover, genauso einfach und grob gewebt wie seiner und in einem hässlichen olivgrünen Farbton, dazu einen abgewetzten Ledergürtel mit
einer bronzenen Spange, und über beidem einen hellgrauen Mantel aus dicker, verfilzter Schafswolle.
Er sieht ungefährlich aus, redete Chris sich ein, es ist keiner von ihnen. Kein Grund sich zu fürchten. Eine gewisse Scheu blieb, doch er riss sich zusammen und hob den Kopf. Vor ihm stand ein alter Mann in der abgetragenen, schon beschriebenen Kleidung, er hatte einen noch ansatzweise braunen Bart, und ebensolches Haar. In der rechten Hand hielt er einen knorrigen, hölzernen Stab, der ihn um einige Handbreit überragte.
"Ein Zauberer!", wusste Chris sofort zu sagen, denn der Mann sah genauso aus
wie die Zauberer, die ihm seine Mutter und seine Großmutter in ihren Märchen und Geschichten immer beschrieben hatten. Ein echter Zauberer! Auf einmal hatte er allen Kummer vergessen und hatte nur noch Augen für den leibhaftigen Zauberer, der hier, direkt vor seiner Nase stand und sich aus irgendeinem, ihm unbegreiflichen, Grund zu ihm begeben hatte und sich deswegen wohl auch für ihn interessieren musste.
"Ah, schon besser", der Mann schenkte ihm ein freundliches Lächeln und zeigte dabei zwei makellose, strahlend weiße Zahnreihen, die so ganz und gar nicht zu seinem sonstigen Äußeren passen wollten. "Was ist denn los mit dir,
Junge?" Ganz hatte Chris seine Scheu noch immer nicht überwunden, und so schaute er den Fremden nur stumm an, was diesem ein weiteres Lächeln, ebenso freundlich wie das erste, entlockte. "Ich kann es mir schon denken, eine dumme Frage eigentlich", gab er zu.
Auf einmal fasste Chris der Mut, den Zauberer anzusprechen, "Kannst du sie zurückholen?", fragte er hoffnungsvoll und flehentlich und schaute ihn mit großen Augen und bettelndem Blick an.
"Deine Eltern, vermute ich, meinst du? Nein, das kann ich nicht." Der Zauberer schüttelte traurig den Kopf, dass die braune Mähne durch die Luft flog: "So Leid es mir auch tut,
Junge".
Eine Weile lang herrschten Stille und Schweigen zwischen den beiden, und Chris war wieder den Tränen nahe, als der Zauberer ihn fragte: "Du vermisst sie, nicht wahr? Du warst noch nie so traurig". Chris nickte nur abwesend, ihn interessierte der Zauberer nicht mehr, seit er wusste, dass dieser ihm nicht helfen konnte.
"Aber ich kann etwas anderes für dich tun", erklärte der Alte und musterte den Jungen abwartend, der seinen Blick mit halbherzigem Interesse erwiderte und fragend die Augenbrauen hochzog.
"Hier", sagte der Zauberer und machte eine weite, ausholende Geste, an deren
Ende er auf einen grauen Trümmerhaufen deutete, auf dem noch vereinzelte Flammen flackerten. Ich habe das hier für dich.
"Was ist das?", fragte Chris mit zusammengekniffenen Augen, zuckenden Augen und deutlich hörbarem Desinteresse in der Stimme.
"Das ist Hoffnung. Ein wenig nur, mehr kann ich dir leider nicht geben. Aber immerhin, es ist etwas, zumindest besser als gar nichts, denke ich...".
Chris wollte schon enttäuscht den Kopf abwenden, den Zauberer, der ihn um seine Hoffnung, die er ihm versprochen hatte, betrogen hatte, wollte er einfach stehen lassen, als plötzlich eine seltsame
Veränderung mit dem Trümmerhaufen vor sich ging. Wo vorhin nichts als Schutt und Asche gewesen waren, wuchs plötzlich saftiges grünes Gras, erstickte die Flammen und bildete einen weichen Teppich auf dem harten Stein. Die auf magische Weise entstandene Wiese breitete sich in alle Richtungen aus, bald erreichte sie auch Chris.
Spätestens zu dem Zeitpunkt, da das weiche, angenehme Gras ihn zwischen den Zehen kitzelte, merkte er, dass all das real war und nicht nur das Trugbild eines Zauberers, der ihn damit lediglich beruhigen oder beschwichtigen wollte.
Ein zaghaftes Lächeln breitete sich auf seinem vom Staub grauen Gesicht aus,
als die ersten bunten Blumen das Grün durchbrachen. Ihre Blüten leuchteten in allen nur erdenklichen Farben, rot, blau, gelb, weiß. Das Lächeln wurde immer breiter, wurde zu einem ersten glockenhellen Lachen, als die ersten Schmetterlinge über die Wiese dahinflogen.
"Das … das ist wunderschön!", sagte er strahlend zu dem Zauberer an seiner Seite, der das Lächeln erwiderte, ihm war deutlich anzusehen, dass er sich mit und für den Jungen freute. "Ich wusste doch, dass es dir gefallen würde", erwiderte er, "Aber pass gut auf, das beste kommt erst noch".
Plötzlich wuchs auf einem kleinen
Hügel, nicht weit von Chris entfernt, ein Bäumchen in die Höhe, wurde immer größer und größer. Zuerst bekam der Baum leuchtend grüne Blätter, dann erblühten überall weiße und hellrosa Blüten, die sich schließlich in rote, pralle Früchte verwandelten; so viele, dass es fast ein Wunder zu sein schien, dass der Baum sich nicht unter ihrem Gewicht beugen musste.
"Sind das Äpfel?", fragte Chris mit forschem Blick.
"Ja", erwiderte der Zauberer, "Lass sie dir schmecken, Junge, pass gut auf dich und die Natur auf. Lebe wohl mein Kind."
Während Chris flink zu dem Baum
hinüberlief, sich einen Apfel pflückte und in die saftige, reife Frucht biss, drehte der alte Mann sich um und ging lächelnd davon, froh, wenigstens einem geholfen zu haben.
Während er ging, verwandelte sich sein Äußeres, und er wurde wieder zu dem jungen, gutaussehenden Mann mit dem kurz geschorenen braunen Haar und den einfachen Kleidern, der Stab in seiner Hand verschwand völlig und sein Bart wurde zu einem kurz getrimmten, ordentlichen braunen Vollbart.
Sein ursprüngliches Äußeres hatte er wieder, doch eines hatte er mit dem Jungen geteilt, ohne auch nur das kleinste Stück davon einzubüßen, im
Gegenteil, sie hatte sich sogar noch vergrößert: Seine Hoffnung