Meine Großmutter
Meine Großmutter müsste eigentlich Kleinmutter genannt werden, weil sie mit zunehmendem Alter geschrumpft ist. Sie gibt zu, nur noch die Hälfte ihrer einstigen Höhe zu besitzen. Früher habe sie ihre Normalhöhe manchmal um drei Zentimeter überragt, und zwar immer dann, wenn sie ihren späteren Ehemann, meinen jetzigen Großvater, mit ihren Stöckelschuhen beeindrucken wollte. Dieses Gehabe stellte sie ein, als sie sich beim Stöckeln den linken Fuß gebrochen hatte. Mein Großvater, der erst nach meiner Geburt mein Großvater wurde, trug sie auf Händen nach Hause.
Als meine Freundin, die derzeit dreizehnjährige Rebecca das vernahm, verlangte sie von mir, auch auf Händen getragen zu werden. Um ihr das zu ermöglichen, müsse sie zwei Voraussetzungen erfüllen, sagte ich. Erstens: Brechen des linken Fußes; Zweitens: Fünf Kilo Körpergewicht verlieren. Unser Liebesverhältnis wandelte daraufhin hart am Abgrund.
Mein Großvater hatte es mit meiner Großmutter, die damals wegen meines Fehlens noch nicht Großmutter war, leichter. Sie sei ein leichtes Mädchen gewesen, fast schwerelos, weil es McDonalds noch nicht gab. Wenn er sie beim Tanze durch die Luft wirbelte, zum
Beispiel beim Rock and Roll, hätte er Mühe gehabt, sie aufzufangen, weil sie wie eine Feder davonschwebte.
Sie wolle auch mal durch die Luft gewirbelt werden, erbat Rebecca. Ich erinnerte sie an die zweite Voraussetzung.
Meine Großmutter ist sehr schrumpelhäutig im Gesicht. Ihre andere Körperhaut kenne ich nicht. Mein Großvater schon, denn er behauptet, sie sei in jungen Jahren von einer Glätte gewesen, die seine Hände an ihr immer nach unten rutschen ließen. Als sie dann verheiratet waren, hätten sie sich auf die Herstellung meines Vaters konzentriert. Ich dachte mir, wie ein ausgewachsener
Mensch Ruck-Zuck fertiggestellt werden kann. Das war doch nur dem lieben Gott gelungen. Dem heutigen Menschen müsse seine Geburt vorangehen. Inzwischen weiß ich, was diesem Vorgang noch voranging.
Rebecca, wie viele ihres Geschlechts sehr neugierig, wollte wissen, was ich nun weiß. Ich wies sie auf ihre Minderjährigkeit hin, die es ihr nicht erlaube, Dinge zu erfahren, die ihr moralisches Wachstum behindern. Mit meinen drei Jahren älter sei ich auch noch nicht volljährig, maulte sie. Ich sei der Volljährigkeit aber näher und als Schüler der 10. Klasse weitaus gebildeter als sie, belehrte ich.
So gering das Wachstum meiner Oma ist, sie wächst ja jetzt nach unten, so riesengroß ist ihre Herzensgüte. Mit der überragt sie alle, die ich kenne. Auch die Bundeskanzlerin Angela Merkel, die von dieser Größe Omas nichts weiß. Mein Großvater meint, Oma leide an einer Herzerweiterung. Da ich ihr einziger Enkel bin, ergießt sich ihre ganze Liebe über mich. Ich bemühe mich, ihre Liebe zu mir aufrecht zu erhalten. Wenn ich mich mit ihr unterhalte, dann klingt das, als würde ich ihr einen Heiratsantrag machen. Sie empfindet das so und bedankt sich dafür mit Geschenken nach meinem Wunsch. Ihre Freigebigkeit ist verständlich, denn
mein Werden hat sie wesentlich beeinflusst. Aufgrund der Berufstätigkeit meiner Eltern oblag es ihr, mich zu einem gehorsamen Menschen zu machen. Nur einmal ging ich in meinem kindlichen Tun fehl; ich biss ihr mit meinen Milchzähnen in den Po. Sie empfand das nicht schmerzlich, denn ich war in diesem Moment und in meiner Vorstellung ein Löwe. Sie schenkte mir eine Tafel Schokolade, in die ich nun biss.
Als Rebecca davon erfuhr, wollte sie wie konnte es anders sein auch ins Hinterteil gebissen werden. Ich kam ihrem Wunsche nach. Sie hatte allerdings nicht bedacht, dass ich meine
Milchzähne inzwischen verloren hatte. Anderntags fragten mich meine Mitschüler, weshalb sich zu meinen braunen Augen ein blaues gesellt habe. Ich fragte zurück, ob jemand noch über Milchzähne verfüge. Allgemeines Verneinen. Daraufhin mein Rat, weibliche Gesäße zu meiden.
Ich könnte noch Vieles über meine herzensgute Großmutter schreiben. So zum Beispiel, dass sie am helllichten Tag in ihrem Lehnstuhl einschläft, ihr beim Sprechen manchmal die Zähne aus dem Mund fallen oder sie nicht weiß, dass bereits Mittwoch und nicht mehr Sonntag ist.
So lange sie weiß, wer ich bin, werde ich
sie informieren, was im Dorf als neuester Klatsch verbreitet wird. Oma ist nämlich schlecht zu Fuß und deshalb auf meine Mitteilungen angewiesen. Die bleiben nicht ohne Dank, der mein Sparschwein immer fülliger werden lässt.
Meine nächste Schilderung gilt meinem Großvater.