Fasziniert ließ Eva ihren Blick über die Felsen wandern. Diese Schlucht war wirklich ein eigenwillig schöner Ort. Dass sich eine enge Straße ihren Weg in ihr suchte, meist mit Hilfe von grob aus dem Stein gehauenen kleinen Tunnels, erhöhte den Reiz des Naturphänomens eher noch. Fast senkrecht, aber an vielen Stellen bizarr überstehend, erhoben sich die Felsen in den Himmel. Sie endeten gerade noch so niedrig, dass es einen nicht völlig sprachlos zurückließ. Diese Schlucht hatte menschliches Maß.
Ein harmlos wirkender kleiner Wasserlauf murmelte am Boden entlang. Dass er in vielen Jahrtausenden die Felsen in ihre jetzige Form gebracht hatte, war kaum zu glauben. Das traute man auch dem Wasserfall nicht zu, der im Hintergrund in tausend kleinen Sprüngen eine Felswand heruntertoste.
So vorherrschend Wasser und Fels auch waren, sie ließen doch noch viel Raum für Bäume, Gräser und Blumen. In allen Schattierungen und dem Reichtum des Frühlings setzten die Pflanzen ihre Akzente. Eva gab sich ihrem Zauber völlig hin. Sie vergaß alles um sich herum.
Gerade eben noch als sie in ihrem kleinen Fiat hierher fuhr, hatte sie sich nichts dringender gewünscht, als mehr Muße für die umgebende Landschaft zu haben, denn die abenteuerliche Straße verlangte alle Konzentration. Sie war so schmal, dass man nur an wenigen Stellen möglichem Gegenverkehr ausweichen konnte. Kilometerlang wandte sie sich in engen Serpentinen die Felswand hinauf und gab immer wieder atemberaubende Blicke auf den See frei.
Dann hatte der Uniformierte sie an den Straßenrand gewunken, in eine lächerlich kleine Ausbuchtung, die gerade mal für ihr winziges Auto als Parkplatz dienen konnte. Aber sie hatte keine Zeit, sich Gedanken um die Sicherheit ihres Abstellplatzes zu machen. Kaum war sie ausgestiegen, hatte der Zauber dieser Schlucht sie genommen. Hier war definitiv die beeindruckendste Stelle ihres bisherigen Weges. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass der weitere Verlauf der Straße hinauf in das Bergdorf Pieve eine noch schönere Stelle bereithalten könnte.
Dabei war der Anlass ihrer Fahrt alles andere as schön. Daran wurde sie nun durch die grantige Stimme erinnert, die „Signora Fumagalli“ zu sich rief. Die Stimme gehörte zu einem vierschrötigen Mann mit ungesunder Gesichtsfarbe, der sich sofort wieder seiner Arbeit zuwandte. Wohl weil er sicher war, dass Signora Fumagalli nur einmal an ihre Pflicht erinnert werden musste. Seufzend richtete sie ihren Blick noch unten, dorthin wo außer dem Vierschrötigen und dem Uniformierten, der sie angehalten hatte, noch einige weitere Männer mehr oder weniger untätig
Herumstanden. Sie befanden sich neben der Straße auf einem Stückchen des Bachufers, das sich völlig harmonisch in die Landschaft eingefügt hätte, wenn es nicht so unziemlich belebt und noch dazu mit rot-weißem Absperrband markiert gewesen wäre. Die Ursache für diese überbordende Zivilisation in der sonst so unberührten Wildheit der Schlucht, lag auf einem Stück Felsen neben dem Wasser. Sie war dezent dunkel gekleidet und lag völlig reglos da, so dass ihre Anwesenheit die Harmonie des Ortes eigentlich nicht störte. Was störte, waren die Aktivitäten, die sie ausgelöst hatte …
Ein besonders früher Mountainbiker hatte sie kurz nach Sonnenaufgang entdeckt. Messerscharf hatte er geschlossen, dass es zu kalt und der Felsen eigentlich zu hart für ein Nickerchen war. Als sie sich auf seinen Anruf hin nicht bewegte, war er vom Rad ab und zu ihr hinunter gestiegen. Er stellte fest, dass sie tot aussah.
Wie er aus zahlreichen Krimis wusste, rührte er nichts an, um keine Spuren zu verwischen. Mit seinem Handy rief er sofort die Carabinieri herbei. Als pflichtbewusster Zeuge wartete er auch das Eintreffen des zuständigen Commissarios ab.
Und nun sollte Eva mit ihm sprechen.
Sie hatte sich ihren ersten Fall anders vorgestellt. Taschendiebstahl vielleicht oder Einbruch, Betrug, Beleidigung, irgendetwas Alltägliches eben. Aber doch keine Leiche. Dabei hatte dieses Unglück genau die Merkmale, wegen derer sie bei der hiesigen Polizei eingestellt worden war. Als zweisprachige Beamtin sollte sie vor allem in den Fällen zugezogen werden, in die deutsche Touristen verwickelt waren. Die meisten Touristen hier waren Deutsche. Der frühe Mountainbikefahrer ebenso wie höchstwahrscheinlich auch die Tote. Obwohl sie von der Toten überhaupt noch nicht wussten, wer sie war.
Eva bewegte sich langsam auf die Gruppe der Männer zu, so als ob sie mit ihrer Trägheit irgendetwas verändern könnte. Aber da war nichts zu verändern. Da lag eine Leiche und da war ein Zeuge, der sie gefunden hatte. Und sie musste ihn jetzt verhören.
Der Mann war vermutlich Ende dreißig, eher klein und stämmig. Er hatte schon ziemlich schüttere, helle Haare und versuchte seine Halbglatze durch eine geschickte Frisur zu kaschieren. Was aber nicht besonders gut gelang. Sein sportlicher Aufzug mit windschnittigem Radfahrerdress, gelber Bikerbrille, Handschuhen und speziellen Fahrradschuhen konnte nicht verbergen, dass er ein paar Pfund zu viel wog. Ein paar sehr viele Pfund zu viel. Das hautenge Trikot zeigte mehr als deutlich, wo sich überall Fettpolster breit machten. Trotz des Übergewichts und seines Bierbauchs wirkte er kräftig. Kondition schien er auch zu haben. Er stand
lässig und breitbeinig da, den Helm in der Hand.
Auf den ersten Blick machte er auf Eva keinen sonderlich sympathischen Eindruck.
Das änderte sich auch nicht, als er zu sprechen begann. Sie hatte sich ihm deutsch vorgestellt und ihn gebeten, von seinem Fund zu berichten. Er war offenbar froh, endlich ungebremst in seiner Muttersprache reden zu können, denn er legte in unglaublicher Geschwindigkeit los.
Bruno Meyer, so hieß er, schien wenig berührt davon zu sein, dass da eine Tote lag. Eva hatte vielmehr den Eindruck, dass er vor allem damit beschäftigt war, sich voller Vorfreude all die vielen Möglichkeiten auszumalen, von diesem wahrhaft spektakulären Urlaubserlebnis berichten zu können. Sie war nur die erste, der er seinen Bericht in gebührender Breite vortragen würde …
Er war am frühen Morgen von Campione aus losgefahren. Seine Kollegen waren eher Langschläfer und auch mehr am Surfen interessiert. Er aber wollte schon möglichst hoch am Berg sein, bevor die Sonne an Kraft gewann und die Auffahrt noch schweißtreibender machte, als sie sowieso schon war. Sie fuhren jedes Jahr mit sechs Mann für eine Woche zum Aktivurlaub hierher. Dieses Jahr waren sie allerdings nur zu fünft. Sven hatte sich ein Bein gebrochen und konnte leider nicht mitkommen. Sie kamen immer hierher, auf den Campingplatz von Campione. Einmal hatten sie ihren Urlaub in Torbole verbracht, waren aber schon im nächsten Jahr wieder nach Campione gekommen. Es war einfach besser. Auch die Bauarbeiten störten sie nicht. Sie hofften nur, dass es sich nicht zu sehr veränderte, wenn die Bauvorhaben beendet waren und auch andere Touristen nach Campione kommen würden. Im schlimmsten Fall würden sie sich nach einem neuen Platz umsehen müssen. Aber noch war es ja nicht so weit.
Er fuhr jedes Jahr einmal diese Bergtour mit seinem Mountainbike. Und einmal rund um den See. Normalerweise zusammen mit Sven, aber der war ja dieses Mal nicht da. Der lag zu Hause und ärgerte sich grün. Besonders wenn er erfahren würde, was er verpasst hatte. Doch er, Bruno, hatte sich natürlich nicht davon abhalten lassen, seine gewohnten Radtouren zu machen, bloß weil er dieses Jahr alleine fahren musste.
„So viel Zuverlässigkeit muss ja belohnt werden. Das Auffinden einer Leiche ist sicher eine angemessene Würdigung …“ dachte Eva bissig, während der Radfahrer von seinen Erlebnissen an diesem Morgen berichtete.
Er lag gut in der Zeit und gönnte sich im Licht der ersten Sonnenstrahlen hie und da einen Blick auf die Landschaft. Da sah er plötzlich eine Gestalt auf diesem Felsen liegen. Sie wäre ihm vielleicht nicht weiter aufgefallen, wenn er nicht gerade Betrachtungen darüber angestellt hätte, dass so früh wie er keiner unterwegs war. Abgesehen von sehr vereinzelten Autos, die ihm entgegengekommen waren oder ihn überholt hatten, hatte er bisher noch niemanden gesehen. Und dann lag da auf einmal ein menschliches Wesen neben dem Wasser und musste noch früher aufgestanden sein als er selbst. Aber dann wunderte er sich doch darüber, warum dieser Jemand in der Kühle des Morgens und auf einem augenscheinlich harten und ungemütlichen Plätzchen eine Pause machte. Um der Sache auf den Grund zu gehen, hatte er deshalb „Buon giorno“ gerufen, aber keine Antwort erhalten. Aber das hatte er ja bereits dem italienischen Kollegen mitgeteilt.
„Diese Arroganz der Deutschen ist wirklich kaum zu fassen. Der denkt doch tatsächlich, bloß weil es hier von deutschen Touristen wimmelt, sei die deutsche Polizei zugezogen worden. Sobald man akzentfrei deutsch spricht, gilt man also nicht mehr als Italienerin“, ging es Eva durch den Sinn.
Aber sie dachte nicht daran, Bruno Meyer in seinem Bericht zu unterbrechen und die Verhältnisse klar zu stellen. Schon aus reinem Selbstschutz nicht. Denn Herr Meyer machte auf sie den Eindruck, dass er ihr weit schweifend seine Ansichten über den Unterschied zwischen Italienern und Deutschen im Allgemeinen und der italienischen und der deutschen Polizei im Besonderen erklären würde, wenn sie ihm eine Gelegenheit dazu gab. Es reichte, wenn er weiterhin wortreich von seinem speziellen Fund erzählte.
Da die Person sich nicht regte und die Umstände im merkwürdig vorkamen, war Bruno abgestiegen. Er hatte nochmals gerufen, in mehreren Sprachen, wie er stolz mitteilte, und mit der Zeit auch immer lauter. Da weiterhin keine Reaktion kam, hatte er sich gedacht, dass da irgendetwas gar nicht in Ordnung wäre und war zu der Gestalt hinunter gestiegen. Als er näher kam, war er sich immer sicherer geworden, dass es sich um eine Tote handeln müsse, obwohl sie ja eigentlich ganz friedlich da lag. Das Blut neben ihrem Kopf und die unnatürliche Blässe ihres Gesichts hatten seine Befürchtungen verstärkt. Und so hatte er sich entschlossen, die Polizei anzurufen und sich wieder auf die Straße zurück zu ziehen, bevor er etwa wichtige Spuren verwischen würde.
„Haben Sie nicht daran gedacht, dass Sie möglicherweise Erste Hilfe leisten könnten?“, unterbrach Eva nun doch einmal den unablässigen Redefluss.
„Nein, ich war mir völlig sicher, dass sie tot war. Wenn ich auch nur den geringsten Zweifel gehabt hätte, hätte ich natürlich versucht, ihr zu helfen. Aber da war nicht der Hauch einer Unsicherheit. Und deshalb habe ich sofort daran gedacht, keine Spuren zu verwischen.“
Jetzt wollte er auch noch für seine unterlassene Hilfeleistung gelobt werden. Die Menschen lasen oder sahen einfach zu viele Krimis. Eva überlegte einen Moment, ob sie ihn nicht doch noch einmal darauf hinweisen sollte, dass er sich hätte vergewissern müssen, dass die Frau wirklich tot war. Aber schnell war ihr klar, dass Bruno Meyer all seine rhetorischen Möglichkeiten auffahren würde, um ihr zu beweisen, dass er richtig gehandelt hatte. Unbelehrbare Touristen zu verprellen, war etwas, was sie in ihrem Job sicher nicht tun sollte. Außerdem hatte er womöglich wie die meisten Menschen eine gewisse Scheu, einen Toten zu berühren, auch wenn er das sicher abgestritten hätte. Wie auch immer, sie ersparte sich die Auseinandersetzung mit ihm.
Es gab zum Glück nicht mehr viel zu besprechen. Eindeutig kannte er die Tote nicht. Aber das war bei Touristen ja auch nicht anders zu erwarten. Er würde mit seinen Kollegen noch vier Tage in Campione bleiben. Schließlich gab er ihr seine Personalien und seine Telefonnummer, auch die in Deutschland. Für alle Fälle. Ein Typ wie er hatte selbstverständlich seinen Personalausweis dabei, um seine Identität zu beweisen. Da er nicht weiter gebraucht wurde, fuhr er zurück nach Campione. Sicher um seinen Freunden ausführlich zu erzählen, was er ihnen per Handy wahrscheinlich schon angedeutet hatte …
Zum Glück waren sie bisher von Reportern verschont geblieben, aber es würde bestimmt nicht mehr lange dauern, bis die ersten auftauchten. Sensationshungrige Zuschauer hatten sie durch die Sperrung der Straße bislang auch fernhalten können. Ihre Kollegen leisteten gute Arbeit, auch wenn sie so entsetzlich fehl am Platz wirkten in der atemberaubenden Kulisse aus Fels, Wasser und üppigen Pflanzen.
Eva hatte nun Zeit, sich die Tote näher anzusehen.
Sie lag wirklich da, als ob sie schliefe. Auch im Tod war sie noch eine attraktive Frau. Ihre langen dunklen Haare umrahmten ein schmales Gesicht. Die Augenbrauen waren stark, doch schön geschwungen, auf der extrem blassen Gesichtshaut hoben sie sich nun noch kräftiger ab. Eine ganz leichte Adlernase, ein voller Mund und ein energisches Kinn gaben ihr prägnante Züge. Sie war für eine Frau ziemlich groß und dabei sehr schlank.
Die Verletzungen mussten auf der anderen Kopfseite sein, denn Eva konnte keine Wunde feststellen. Selbst Blut war nur wenig zu sehen. Auf ihrem Pullover fiel es kaum auf, weil der so dunkel war und auf dem Boden neben ihr war nur eine kleine, inzwischen eingetrocknete Lache.
Eva wendete sich nun den Männern der Spurensicherung und dem Commissario zu, die sich während ihres Gesprächs mit Bruno Meyer zielgerichtet mit der Untersuchung des Opfers und des Umfelds beschäftigt hatten. Über die Identität der Toten hatten sie noch nichts herausfinden können. Aber sie waren sich sehr sicher, dass es sich um einen Mord handeln müsse. Ebenso sicher waren sie, dass der Fundort nicht der Tatort war.
„Einen Unfall oder einen Selbstmord können wir ausschließen. Es ist so gut wie unmöglich, zu diesen Felsen zu gelangen um dann mehr oder weniger freiwillig herunter zu fallen“, dozierte Alfonso Lupo. Der vierschrötige Mann blickte dabei vielsagend an den in Frage kommenden Felswänden hinauf. „Außerdem ist nirgendwo eine Spur zu entdecken, dass da in letzter Zeit etwas oder jemand herunter gefallen ist. Und schließlich und vor allem ist hier auch zu wenig Blut, als dass die Tat hier begangen worden sein könnte.“
„Gibt es denn Anzeichen dafür, dass ein Auto gehalten hat und jemand die Tote dort hinlegte?“, fragte Eva.
Murrend verneinte der Commisario: „Bis jetzt haben wir nichts dergleichen gefunden.“
Möglicherweise hatte der Mountainbiker doch Spuren vernichtet, obwohl er sich doch so bemühte, genau das nicht zu tun.
„Ohne die Identifizierung der Leiche kommen wir erst mal nicht weiter.“ Das war das unwidersprochene Schlusswort Alfonso Lupos.
Fasziniert ließ Eva ihren Blick über die Felsen wandern. Diese Schlucht war wirklich ein eigenwillig schöner Ort. Dass sich eine enge Straße ihren Weg in ihr suchte, meist mit Hilfe von grob aus dem Stein gehauenen kleinen Tunnels, erhöhte den Reiz des Naturphänomens eher noch. Fast senkrecht, aber an vielen Stellen bizarr überstehend, erhoben sich die Felsen in den Himmel. Sie endeten gerade noch so niedrig, dass es einen nicht völlig sprachlos zurückließ. Diese Schlucht hatte menschliches Maß.
Ein harmlos wirkender kleiner Wasserlauf murmelte am Boden entlang. Dass er in vielen Jahrtausenden die Felsen in ihre jetzige Form gebracht hatte, war kaum zu glauben. Das traute man auch dem Wasserfall nicht zu, der im Hintergrund in tausend kleinen Sprüngen eine Felswand heruntertoste.
So vorherrschend Wasser und Fels auch waren,
sie ließen doch noch viel Raum für Bäume, Gräser und Blumen. In allen Schattierungen und dem Reichtum des Frühlings setzten die Pflanzen ihre Akzente. Eva gab sich ihrem Zauber völlig hin. Sie vergaß alles um sich herum.
Gerade eben noch als sie in ihrem kleinen Fiat hierher fuhr, hatte sie sich nichts dringender gewünscht, als mehr Muße für die umgebende Landschaft zu haben, denn die abenteuerliche Straße verlangte alle Konzentration. Sie war so schmal, dass man nur an wenigen Stellen möglichem Gegenverkehr ausweichen konnte. Kilometerlang wandte sie sich in engen Serpentinen die Felswand hinauf und gab immer wieder atemberaubende Blicke auf den See frei.
Dann hatte der Uniformierte sie an den Straßenrand gewunken, in eine lächerlich kleine Ausbuchtung, die gerade mal für ihr winziges
Auto als Parkplatz dienen konnte. Aber sie hatte keine Zeit, sich Gedanken um die Sicherheit ihres Abstellplatzes zu machen. Kaum war sie ausgestiegen, hatte der Zauber dieser Schlucht sie gefangen genommen. Hier war definitiv die beeindruckendste Stelle ihres bisherigen Weges. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass der weitere Verlauf der Straße hinauf in das Bergdorf Pieve eine noch schönere Stelle bereithalten könnte.
Dabei war der Anlass ihrer Fahrt alles andere as schön. Daran wurde sie nun durch die grantige Stimme erinnert, die „Signora Fumagalli“ zu sich rief. Die Stimme gehörte zu einem vierschrötigen Mann mit ungesunder Gesichtsfarbe, der sich sofort wieder seiner Arbeit zuwandte. Wohl weil er sicher war, dass Signora Fumagalli nur einmal an ihre Pflicht erinnert werden musste. Seufzend richtete sie ihren Blick noch unten, dorthin wo außer dem
Vierschrötigen und dem Uniformierten, der sie angehalten hatte, noch einige weitere Männer mehr oder weniger untätig herumstanden.
Sie befanden sich neben der Straße auf einem Stückchen des Bachufers, das sich völlig harmonisch in die Landschaft eingefügt hätte, wenn es nicht so unziemlich belebt und noch dazu mit rot-weißem Absperrband markiert gewesen wäre. Die Ursache für diese überbordende Zivilisation in der sonst so unberührten Wildheit der Schlucht, lag auf einem Stück Felsen neben dem Wasser. Sie war dezent dunkel gekleidet und lag völlig reglos da, so dass ihre Anwesenheit die Harmonie des Ortes eigentlich nicht störte. Was störte, waren die Aktivitäten, die sie ausgelöst hatte …
Ein besonders früher Mountainbiker hatte sie kurz nach Sonnenaufgang entdeckt. Messerscharf hatte er geschlossen, dass es zu kalt und der Felsen eigentlich zu hart für ein
Nickerchen war. Als sie sich auf seinen Anruf hin nicht bewegte, war er vom Rad ab und zu ihr hinunter gestiegen. Er stellte fest, dass sie tot aussah.
Wie er aus zahlreichen Krimis wusste, rührte er nichts an, um keine Spuren zu verwischen. Mit seinem Handy rief er sofort die Carabinieri herbei. Als pflichtbewusster Zeuge wartete er auch das Eintreffen des zuständigen Commissarios ab.
Und nun sollte Eva mit ihm sprechen.
Sie hatte sich ihren ersten Fall anders vorgestellt. Taschendiebstahl vielleicht oder Einbruch, Betrug, Beleidigung, irgendetwas Alltägliches eben. Aber doch keine Leiche. Dabei hatte dieses Unglück genau die Merkmale, wegen derer sie bei der hiesigen Polizei eingestellt worden war. Als zweisprachige Beamtin sollte sie vor allem in
den Fällen zugezogen werden, in die deutsche Touristen verwickelt waren. Die meisten Touristen hier waren Deutsche. Der frühe Mountainbikefahrer ebenso wie höchstwahrscheinlich auch die Tote. Obwohl sie von der Toten überhaupt noch nicht wussten, wer sie war.
Eva bewegte sich langsam auf die Gruppe der Männer zu, so als ob sie mit ihrer Trägheit irgendetwas verändern könnte. Aber da war nichts zu verändern. Da lag eine Leiche und da war ein Zeuge, der sie gefunden hatte. Und sie musste ihn jetzt verhören.
Der Mann war vermutlich Ende dreißig, eher klein und stämmig. Er hatte schon ziemlich schüttere, helle Haare und versuchte seine Halbglatze durch eine geschickte Frisur zu kaschieren. Was aber nicht besonders gut gelang. Sein sportlicher Aufzug mit windschnittigem Radfahrerdress, gelber
Bikerbrille, Handschuhen und speziellen Fahrradschuhen konnte nicht verbergen, dass er ein paar Pfund zu viel wog. Ein paar sehr viele Pfund zu viel. Das hautenge Trikot zeigte mehr als deutlich, wo sich überall Fettpolster breit machten. Trotz des Übergewichts und seines Bierbauchs wirkte er kräftig. Kondition schien er auch zu haben. Er stand lässig und breitbeinig da, den Helm in der Hand.
Auf den ersten Blick machte er auf Eva keinen sonderlich sympathischen Eindruck.
Das änderte sich auch nicht, als er zu sprechen begann. Sie hatte sich ihm deutsch vorgestellt und ihn gebeten, von seinem Fund zu berichten. Er war offenbar froh, endlich ungebremst in seiner Muttersprache reden zu können, denn er legte in unglaublicher Geschwindigkeit los.
Bruno Meyer, so hieß er, schien wenig berührt
davon zu sein, dass da eine Tote lag. Eva hatte vielmehr den Eindruck, dass er vor allem damit beschäftigt war, sich voller Vorfreude all die vielen Möglichkeiten auszumalen, von diesem wahrhaft spektakulären Urlaubserlebnis berichten zu können. Sie war nur die erste, der er seinen Bericht in gebührender Breite vortragen würde …
Er war am frühen Morgen von Campione aus losgefahren. Seine Kollegen waren eher Langschläfer und auch mehr am Surfen interessiert. Er aber wollte schon möglichst hoch am Berg sein, bevor die Sonne an Kraft gewann und die Auffahrt noch schweißtreibender machte, als sie sowieso schon war. Sie fuhren jedes Jahr mit sechs Mann für eine Woche zum Aktivurlaub hierher. Dieses Jahr waren sie allerdings nur zu fünft. Sven hatte sich ein Bein gebrochen und konnte leider nicht mitkommen. Sie kamen immer
hierher, auf den Campingplatz von Campione. Einmal hatten sie ihren Urlaub in Torbole verbracht, waren aber schon im nächsten Jahr wieder nach Campione gekommen. Es war einfach besser. Auch die Bauarbeiten störten sie nicht. Sie hofften nur, dass es sich nicht zu sehr veränderte. Im schlimmsten Fall würden sie sich nach einem neuen Platz umsehen müssen. Aber noch war es ja nicht so weit.
Er fuhr jedes Jahr einmal diese Bergtour mit seinem Mountainbike. Und einmal rund um den See. Normalerweise zusammen mit Sven, aber der war ja dieses Mal nicht da. Der lag zu Hause und ärgerte sich grün. Besonders wenn er erfahren würde, was er verpasst hatte. Doch er, Bruno, hatte sich natürlich nicht davon abhalten lassen, seine gewohnten Radtouren zu machen, bloß weil er dieses Jahr alleine fahren musste.
„So viel Zuverlässigkeit muss ja belohnt werden. Das Auffinden einer Leiche ist sicher eine angemessene Würdigung …“ dachte Eva bissig, während der Radfahrer von seinen Erlebnissen an diesem Morgen berichtete.
Er lag gut in der Zeit und gönnte sich im Licht der ersten Sonnenstrahlen hie und da einen Blick auf die Landschaft. Da sah er plötzlich eine Gestalt auf diesem Felsen liegen. Sie wäre ihm vielleicht nicht weiter aufgefallen, wenn er nicht gerade Betrachtungen darüber angestellt hätte, dass so früh wie er keiner unterwegs war. Abgesehen von sehr vereinzelten Autos, die ihm entgegen gekommen waren oder ihn überholt hatten, hatte er bisher noch niemanden gesehen.
Und dann lag da auf einmal ein menschliches Wesen neben dem Wasser und musste noch früher aufgestanden sein als er selbst.
Aber dann wunderte er sich doch darüber,
warum dieser Jemand in der Kühle des Morgens und auf einem augenscheinlich harten und ungemütlichen Plätzchen eine Pause machte. Um der Sache auf den Grund zu gehen, hatte er deshalb „Buon giorno“ gerufen, aber keine Antwort erhalten. Aber das hatte er ja bereits dem italienischen Kollegen mitgeteilt.
„Diese Arroganz der Deutschen ist wirklich kaum zu fassen. Der denkt doch tatsächlich, bloß weil es hier von deutschen Touristen wimmelt, sei die deutsche Polizei zugezogen worden. Sobald man akzentfrei deutsch spricht, gilt man also nicht mehr als Italienerin“, ging es Eva durch den Sinn.
Aber sie dachte nicht daran, Bruno Meyer in seinem Bericht zu unterbrechen und die Verhältnisse klar zu stellen. Schon aus reinem Selbstschutz nicht. Denn Herr Meyer machte auf sie den Eindruck, dass er ihr weitschweifend seine Ansichten über den
Unterschied zwischen Italienern und Deutschen im Allgemeinen und der italienischen und der deutschen Polizei im Besonderen erklären würde, wenn sie ihm eine Gelegenheit dazu gab. Es reichte, wenn er weiterhin wortreich von seinem speziellen Fund erzählte.
Da die Person sich nicht regte und die Umstände im merkwürdig vorkamen, war Bruno abgestiegen. Er hatte nochmals gerufen, in mehreren Sprachen, wie er stolz mitteilte, und immer lauter. Da weiterhin keine Reaktion kam, hatte er sich gedacht, dass da irgendetwas gar nicht in Ordnung wäre und war zu der Gestalt hinunter gestiegen. Als er näher kam, war er sich immer sicherer geworden, dass es sich um eine Tote handeln müsse, obwohl sie ja eigentlich ganz friedlich da lag. Das Blut neben ihrem Kopf und die unnatürliche Blässe ihres Gesichts hatten seine Befürchtungen verstärkt.
Und so hatte er sich entschlossen, die Polizei
anzurufen und sich wieder auf die Straße zurück zu ziehen, bevor er etwa wichtige Spuren verwischen würde.
„Haben Sie nicht daran gedacht, dass Sie möglicherweise Erste Hilfe leisten könnten?“, unterbrach Eva nun doch einmal den unablässigen Redefluss.
„Nein, ich war mir völlig sicher, dass sie tot war. Wenn ich auch nur den geringsten Zweifel gehabt hätte, hätte ich natürlich versucht, ihr zu helfen. Aber da war nicht der Hauch einer Unsicherheit. Und deshalb habe ich sofort daran gedacht, keine Spuren zu verwischen.“
Jetzt wollte er auch noch für seine unterlassene Hilfeleistung gelobt werden. Die Menschen lasen oder sahen einfach zu viele Krimis. Eva überlegte einen Moment, ob sie ihn nicht doch noch einmal darauf hinweisen sollte, dass er sich hätte vergewissern müssen, dass die Frau
wirklich tot war.
Aber schnell war ihr klar, dass Bruno Meyer all seine rhetorischen Möglichkeiten auffahren würde, um ihr zu beweisen, dass er richtig gehandelt hatte.
Unbelehrbare Touristen zu verprellen, war etwas, was sie in ihrem Job sicher nicht tun sollte. Außerdem hatte er womöglich wie die meisten Menschen eine gewisse Scheu, einen Toten zu berühren, auch wenn er das sicher abgestritten hätte. Wie auch immer, sie ersparte sich die Auseinandersetzung mit ihm.
Es gab zum Glück nicht mehr viel zu besprechen. Eindeutig kannte er die Tote nicht. Aber das war bei Touristen ja auch nicht anders zu erwarten. Er würde mit seinen Kollegen noch vier Tage in Campione bleiben. Schließlich gab er ihr seine Personalien und seine Telefonnummern. Für alle Fälle. Ein Typ wie er hatte selbstverständlich seinen Personalausweis
dabei, um seine Identität zu beweisen. Da er nicht weiter gebraucht wurde, fuhr er zurück nach Campione. Sicher um seinen Freunden ausführlich zu erzählen, was er ihnen per Handy wahrscheinlich schon angedeutet hatte …
Zum Glück waren sie bisher von Reportern verschont geblieben, aber es würde bestimmt nicht mehr lange dauern, bis die ersten auftauchten. Sensationshungrige Zuschauer hatten sie durch die Sperrung der Straße bislang auch fernhalten können. Ihre Kollegen leisteten gute Arbeit, auch wenn sie so entsetzlich fehl am Platz wirkten in der atemberaubenden Kulisse aus Fels, Wasser und üppigen Pflanzen.
Eva hatte nun Zeit, sich die Tote näher anzusehen.
Sie lag wirklich da, als ob sie schliefe. Auch im Tod war sie noch eine attraktive Frau. Ihre
langen dunklen Haare umrahmten ein schmales Gesicht. Die Augenbrauen waren stark, doch schön geschwungen, auf der extrem blassen Gesichtshaut hoben sie sich nun noch kräftiger ab. Eine ganz leichte Adlernase, ein voller Mund und ein energisches Kinn gaben ihr prägnante Züge. Sie war für eine Frau ziemlich groß und dabei sehr schlank.
Die Verletzungen mussten auf der anderen Kopfseite sein, denn Eva konnte keine Wunde feststellen. Selbst Blut war nur wenig zu sehen. Auf ihrem Pullover fiel es kaum auf, weil der so dunkel war und auf dem Boden neben ihr war nur eine kleine, inzwischen eingetrocknete Lache.
Eva wendete sich nun den Männern der Spurensicherung und dem Commissario zu, die sich während ihres Gesprächs mit Bruno Meyer zielgerichtet mit der Untersuchung des Opfers und des Umfelds beschäftigt hatten.
Über die Identität der Toten hatten sie noch nichts herausfinden können. Aber sie waren sich sehr sicher, dass es sich um einen Mord handeln müsse. Ebenso sicher waren sie, dass der Fundort nicht der Tatort war.
„Einen Unfall oder einen Selbstmord können wir ausschließen. Es ist so gut wie unmöglich, zu diesen Felsen zu gelangen um dann mehr oder weniger freiwillig herunter zu fallen“, dozierte Alfonso Lupo.
Der vierschrötige Mann blickte dabei vielsagend an den in Frage kommenden Felswänden hinauf.
„Außerdem ist nirgendwo eine Spur zu entdecken, dass da in letzter Zeit etwas oder jemand herunter gefallen ist. Und schließlich und vor allem ist hier auch zu wenig Blut, als dass die Tat hier begangen worden sein könnte.“
„Gibt es denn Anzeichen dafür, dass ein Auto gehalten hat und jemand die Tote dort
hinlegte?“, fragte Eva.
Murrend verneinte der Commisario: „Bis jetzt haben wir nichts dergleichen gefunden.“
Möglicherweise hatte der Mountainbiker doch Spuren vernichtet, obwohl er sich doch so bemühte, genau das nicht zu tun.
„Ohne die Identifizierung der Leiche kommen wir erst mal nicht weiter.“ Das war das unwidersprochene Schlusswort Alfonso Lupos.
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