Eigentlich hätte ich da tot liegen sollen. Und nicht sie. Spontan hatte sie mich angerufen und gefragt, ob ich zu Hause bin. Ich bejate. Daraufhin sagte sie mir, das sie zu mir kommen wollte, da es bei ihr wieder Stress gab und sie es nicht mehr mit ihm aushielt. Auf den Tag hatte ich gewartet. Endlich war sie zur Vernunft gekommen, dachte ich. Viel zu lange hatte sie sich schon von ihm Vorwürfe anhören müssen und sich von ihm schlagen lassen. Mir ging es nicht nur um sie, viel mehr ging es mir um ihre Tochter, die das
ganze Theater Tag für Tag ertragen musste. Irgendwann wäre sie seelisch am Ende gewesen. Wer weiß, was sie dann getan hätte. Wahrscheinlich Drogen genommen, um alles wenigstens halbwegs zu ertragen. Oder sie wäre abgehauen. Außer das Jugendamt wäre schneller gewesen und hätte sie ins Heim gesteckt. Das wäre für die Mutter ein Schock gewesen. Auch wenn ich sie immer wieder gewarnt hatte, das es so weit kommen wird, wenn sie weiterhin bei dem Typen bleibt und er sich nicht ändert. Zu dem Zeitpunkt war ich stolz auf mich gewesen, da ich seit etwa drei Wochen keinen Alkohol mehr angefasst
hatte. Die Versuchungen waren dagewesen. Aber ich widerstand ihnen. Was mir äußerst schwer fiel. Zu viele Jahre hatte ich mich schon dem Alkohol hingegeben, um einfach so locker damit aufhören zu können. Immer wieder hatte ich einen Grund gefunden, die Flasche anzusetzen. Am Ende war es mehr deswegen gewesen, damit die Hände aufhörten zu zittern. Völlig fertig kam sie bei mir an. Es gab eine lange Umarmung, die ich sehr genoss. Sie war erleichtert, mich zu sehen und weg von dem Typen zu sein, der ihr am Tag zuvor noch die Tür vor den Kopf geschlagen hatte. Das Hörnchen war deutlich zu sehen. Warum
sie ihn nie angezeigt hatte... Doch, ich verstehe es. Habe mich doch selber von jemand schlagen lassen und nie Anzeige erstattet. Ob es wirklich Liebe war oder Hörigkeit, weiß ich nicht. Es hatte sich nach Liebe angefühlt. Aber in der Zwischenzeit sehe ich es anders. Und bei ihr ist es nicht anders gewesen. Ihr Typ behandelte sie schlimmer, als meine Ex mich. Etwa eine Stunde später sagte ich zu ihrer Tochter, das sie an mein Laptop darf. Meinetwegen durfte sie zu Facebook und Co. Und während sie sich beschäftigte, machten ihre Mutter und ich einen Spaziergang. Ich hatte die Flasche gesehen und wusste ganz genau,
das sie sie heute noch leeren wollte; Frustsaufen. Ich hatte schon vorher gewusst, das ich irgendwann wieder anfangen werde. Es war immer so gewesen. Ein paar Tage blieb ich trocken, dann fing ich aus irgendeinem Grund wieder an. Auch wenn das Kind schon zwölf war, wollte ich nicht vor ihr trinken. Sie sollte nicht zusehen, wie wir uns sinnlos besaufen. Ich wollte nicht, das sie es irgendwann genauso macht. Das hatte ich ihr auch schon mal ins Gesicht gesagt. Hab ihr von mir erzählt, wie mich der Alkohol geschnappt hatte und mich seit dem nicht mehr loslässt. Das mich das völlig fertig macht. Dann wies
ich sie noch auf den Typen von ihrer Mutter hin, der sich täglich ins Koma soff. Ob es was gebracht hat, weiß ich nicht. Zumindest habe ich ihr nicht verboten, Alkohol zu konsumieren, sondern ihr davon abgeraten. Dabei habe ich ihr gezeigt, das es mir um ihr Wohl geht. Wir holten noch ein paar Flaschen Bier. Danach marschierten wir ziellos durch die Gegend. Irgendwann sahen wir die Ruine. Ohne zu überlegen, gingen wir dahin und stiegen hinauf. Jetzt, im Nachhinein, ist mir bewusst, in welche Gefahr wir uns da gebracht hatten. Denn das Teil war nicht sonderlich stabil. Auch wenn es schon seit Jahren
dort stand, konnte es jederzeit einfach einstürzen. Als wir da oben saßen, redeten wir viel und tranken noch mehr. Wir tranken zügig und unbedacht. Unbemerkt war die Nacht herangezogen. Und dann geschah das Unheil. Ich wollte aufstehen und mich in eine Ecke stellen. Dabei stolperte ich aber. Der Alkohol zeigte seine ganze Wirkung. Taumelnd schritt ich vor und zurück. Suchte Halt, fand aber keinen. Sie stand auf und wollte mir eigentlich helfen, da ich ziemlich nah an der Kante stand und es ziemlich weit nach unten ging. Wäre sie sitzen geblieben...Wie genau es passiert ist, weiß ich nicht. Wir hatten beide
Schnaps und Bier getrunken. Vielleicht wäre es auch so passiert, wenn sie nicht versucht hätte mir zu helfen. Ich werde es nie erfahren. Als ich am folgenden Morgen aufwachte, war sie nicht mehr dagewesen. Nur noch ein riesiger Blutfleck erinnerte an die Nacht zuvor. Während ich meinen Vollrausch ausgeschlafen hatte, musste sie jemand gefunden und die Polizei gerufen haben. Aber warum hatte mich niemand geweckt? Kam keiner nach oben, um sich die Absturzstelle genauer anzusehen? Mir ging es echt beschissen. Erstens: hatte ich wieder getrunken, nach dem ich
so lange durchgehalten hatte. Zweitens: war meine einzige und beste Freundin tot. Was vielleicht, vielleicht auch nicht, an mir lag. Drittens ihre Tochter war bei mir und ich musste es ihr schonend und direkt beibringen.
Immer wieder stelle ich mir die Frage, was wäre gewesen wenn. Was wäre gewesen, wenn ich nicht so streng getorkelt wäre? War es ihr auch so gegangen, wie mir und konnte nicht mehr stehen? Und wie genau war es geschehen? Habe ich ihr einen Stoß verpasst?