Ein Mädchen so wie ich und du, das lebte in einem Vogelnest. Es befand sich auf einem Hochhaus, von dem sie meinte die ganze Welt zu sehen. Ihre Familie waren der Papa Rabe und die Mama Taube. Das Mädchen wuchs gut behütet von ihren beflügelten Eltern auf, die es mit Würmern und Nüssen versorgten. Das Mädchen kannte die Welt nicht anders, als oben vom Hochhaus herab mit ihrem Papa und ihrer Mama auf jeweils einer Schulter. Ihre Eltern liebten ihr Kind, auch wenn es keine Flügel hatte wie sie. Eines Tages, als das Mädchen nun schon 8 Jahre alt war, fragte es ihre Eltern: „Mama, Papa wann lerne ich fliegen, so wie ihr?“ „Kind
weißt du...“, fing der Papa Rabe an und kratzte sich verlegen an seinem Flügel. „Ja weißt du...“, sagte Mama Taube vorsichtig, „du hast keine Flügel mein Engelchen.“ „Aber warum denn nicht? Bin ich nicht auch ein Vogel so wie ihr“, fragte das Mädchen. Das Mädchen hatte sich noch nie im Spiegel gesehen und dachte daher, es müsste genau wie seine Eltern ein Vogel sein. Die Eltern kamen jetzt sehr in Verlegenheit und der Papa traute sich erst gar nicht was zu sagen. Schließlich sagte die Mama: „Mein Schatz, leider bist du kein Vogel.“ Da war das Mädchen sehr erschreckt. „Aber wie kann das sein, wenn ich doch eure Tochter bin und ihr beide Vögel seit?“
Da wurde dem Papa noch mulmiger zumute und er versteckte schnell den Kopf in seinem Gefieder. Die Mutter aber drückte ihren weichen gefiederten Kopf an die Wange ihres Kindes und sagte ganz sanft: „Du bist meine Tochter und wir sind dein Eltern nur habe ich dich nicht geboren als mein Fleisch und Blut.“ „Aber wie ist das möglich, dass du mich nicht geboren hast, wenn ich doch deine Tochter bin?“ Da weinte der Papa ganz bitterlich in sein Gefieder und die Mutter sagte: „Aber Engelchen ich habe dich so lieb als wärst du mein Fleisch und Blut. Und nur das zählt.“ doch das konnte das Mädchen nicht akzeptieren. Und sie rief: „Nein, ich bin
deine Tochter und ich werde es dir beweisen“. Und damit sprang sie vom Hochhaus hinab. Da waren ihre Eltern sehr erschreckt und sprangen ihr nach und versuchten sie auf halber höhe nach oben zu zerren. Doch sie waren zu klein und ihre Tochter zu groß. Sie schafften es nicht. Doch das Mädchen schaffte es. Sie hatte ihre Arme ausgebreitet und flog auch ohne Flügel durch die Luft. Sie lachte vergnügt und wirbelte durch die Luft. Dann kehrte sie zu ihren Eltern zurück und sagte: „Seht ihr, ich bin eure Tochter, auch ohne Flügel!“ Da lächelten ihre Eltern und sagten: „Das wissen wir doch schon längst. Auch wenn wir alle verschieden sind, sind wir
doch eine Familie. Denn Liebe ist stärker als alles andere, sogar als Blut.“ Und sie schlossen die Tochter in ihre Flügel.