Biografien & Erinnerungen
Wahlkampf

0
"Wir nehmen uns nichts von anderen"
Veröffentlicht am 10. Januar 2016, 18 Seiten
Kategorie Biografien & Erinnerungen
© Umschlag Bildmaterial: stillkost - Fotolia.com
http://www.mystorys.de

Über den Autor:

Wollt Ihr etwas über mich erfahren, dann lest meine Texte. Viel Spaß. P.S. Freue mich über Feedback. (Es darf auch Kritik geübt werden, bringt einen weiter.)
Wir nehmen uns nichts von anderen

Wahlkampf

Sieben Uhr dreißig, der Wecker klingelte gnadenlos. Vorwurfsvoll betrachtete sie ihren verhassten Helfer. Ein Blick aus dem Fenster zeigte ihr, das der Morgen langsam erwachte. Vorsichtig streckte sie die kleine Zehe unter der warmen Decke hervor. Von einer plötzlichen Kälte erfasst, zog sich ihr Fuß reflexartig zurück. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Instinktiv verkroch sie sich tiefer in die wärmende Umarmung. Das Ticken der Wanduhr erinnerte sie kontinuierlich an das Fortschreiten der Zeit. Es half ja alles nichts. Christiane musste sich erheben. Schwungvoll entledigte sie sich ihrer Bettdecke, sprang in die vor dem Bett stehenden pinkfarbenen Puschen und schnappte sich auf dem Weg in die Küche, den farblich passend

Morgenmantel. Sie schlüpfte Zähne klappernd hinein. Das aufflackernde Licht der elektrischen Beleuchtung in ihrer Küche schmerzte ihre noch schlaftrunkenen Augen. Chrisi, wie sie von ihren Freunden genannt wurde, füllte Wasser in den Bauch der Kaffeemaschine. Beim Öffnen der Dose stieg ihr dieser vertraute und geliebte Duft in die Nase. Sie sog ihn gierig ein. Dann fütterte sie die Maschine mit den nötigen Zutaten. Begleitet vom Glucksen des schwer arbeitendem Geräts, begab sie sich ins Bad. Nach einer erfrischenden Dusche, mit anschließender Zahnreinigung fühlte sie sich wieder halbwegs menschlich. Ihr Mitbewohner, gleichzeitig auch einer ihrer engsten Freunde, saß mit zusammen

gekniffenen Augen am Küchentisch. Vor ihm stand eine dampfend heiße Tasse mit Kaffee. „ Du siehst aus wie das blühende Lebende“, begrüßte sie ihn. Karl ignorierte ihre schnippische Andeutung über sein Aussehen. Während Chrisi den ersten Schluck des Elexier des Erwachens zu sich nahm, trotte er ins Bad. Nachdem sich beide im Zwiebelsystem auf die kommenden Aufgaben vorbereitet hatten, trabten sie zum vereinbarten Treffpunkt. Als Mitglieder der Partei „ Die Pinken Strümpfe“ trafen sie sich am heutigen Samstag, zu ihrem ersten gemeinsamen Informationsstand im neuen Jahr. Für die in zwei Monaten stattfindende Kommunalwahl waren Ausflüge dieser Art, in die Umliegenden Städte und Gemeinden

unablässig. In einem Landkreis, der einerseits Nähe zur Großstadt, andererseits aber auch plattes Land umfasste, hatten sie mit ihren radikalen, sozial engagierten, nicht national bezogenen Themen keinen leichten Stand. Die Bevölkerung betrachteten sie nicht mehr als die schmuddeligen, Utopien nach jagenden Kinder, aber das die Menschen ihre Vorstellungen einer funktionierenden Gesellschaft mit Jubelschreien begegneten, kam in den seltensten Fällen vor. Dabei waren ihre politischen Schwerpunkte nicht in aus der Luft gegriffene Forderungen. Wohnungsnot, steigende Armut in der Bevölkerung, Kriegsschauplätze auf der ganzen Welt, Umweltzerstörung und steigende

Flüchtlingszahlen prangerten auf den Titelseiten der Zeitungen. Doch ein Umdenken im Volk fand trotz reger Diskussionen nicht statt. Umso wichtiger erschien es ihnen die breite Masse von ihren Ideen zu überzeugen. Das das ganze Unternehmen kein Zuckerschlecken würde, war allen Beteiligten bewusst. Doch irgendwo musste doch mal irgendjemand anfangen. Pünktlich um neun Uhr trudelten die Mitstreiter am Büro der „ Pinken Strümpfe“ ein. In der letzten Sitzung beschlossen sie gemeinsam, das man die Gelegenheit nutzte, in der angrenzten Umgebung des kleinen Ortes, in dem der heutige Informationsstand stattfand, Flyer mit Informationen zum Wahlprogramm in die Briefkästen der

Anwohner zu verteilen. Schließlich sollten die ansässigen Menschen im Wahlkreis wissen wen sie bei der Kommunalwahl ihre Stimme geben sollten. Außer Karl und Christiane erschienen noch Michaela und Paul. Nach einer herzlichen Begrüßung packten sie die benötigten Utensilien zusammen. Dann stiegen sie in die Autos. Frohen Mutes machten sie sich auf den Weg. Schwatzend verging die knapp einstündige Fahrt bis zu ihrem Bestimmungsort wie im Fluge. Vor Ort angekommen schnappte sich jeder etwas zum Tragen. Gemeinsam überlegten sie welche Stelle für ihre Zwecke bestens geeignet sei. Schnell einigten sie sich auf einen ihnen vorteilhaft erscheinenden Platz. Strategisch gut von allen Seiten sichtbar,

stellten sie den mitgebrachten Tisch am Anfang des stattfinden Flohmarktes auf. Sie achteten darauf genügend Abstand zu den Verkaufsständen zu wahren. Niemand sollte durch ihre Anwesenheit finanzielle Einbusen verzeichnen. Trotz Zwiebelschichtsystem lechzte die Kälte an ihren Fingern und Händen. Sie verdammten Karl zum Kaffee holen. Nach zehn Minuten kam er mit dampfenden Bechern zurück. Genüsslich tranken sie das wärme spendende Wunderelexier. Doch schon bald machten sich Karl und Michaela auf den Weg. Anfangs gestalte sich der Infostand in der Provinz wirklich schleppend. Die vorbei hechtenden Passanten beachteten die Beiden zurück gebliebenen kaum. Das

angebotene Informationsmaterial lehnten die meisten dankend ab. Einige gaben unmissverständlich zu verstehen, was sie von der Partei hielten. Andere wiederum fühlten sich durch die aufgestellten Plakate dazu berufen sich doch mit Paul und Christiane zu unterhalten. Sie mochte diese kleinen Gespräche am Rande. Schließlich bot ihr das die Gelegenheit zu erfahren, was in ihren Mitmenschen vorging. Was sie bewegte, sie belastete, erfreute und vielleicht auch was sie sich erhofften. Da ihr Beitritt erst drei Jahre zurücklag, hielten sich ihre Erfahrungen im Kommunalwahlkampf doch sehr in Grenzen. Auch dieser kleine Ort ziemlich weit im Osten des Landkreises gehörte nicht zu ihrem vertrauten Terrain.

Nicht das sie über die Situation in diesem Teil nicht informiert war, sie liebte einfach nur das Leben in der Stadt. In die ländliche Idylle verschlug sie es selten. In diesem Teil des Landkreises herrschte Ebbe in den öffentlichen Kassen. Mückenheim gehörte zu den ärmsten Gemeinden. Das blieb den Einwohnern, aber auch dem Besucher des kleinen Örtchens nicht verborgen. Der Zahn der Zeit nagte an den alten Häusern, den Straßen, den öffentlichen Gebäuden. In einem System, das den Kommunen die Daumenschrauben anlegte, traf es immer zu erst die Ärmsten. Das traf bei den Gemeinden genau so zu, wie in der Gesellschaft auch. Nun stand Chrisi mit Paul in Mückenheim. Ein beunruhigendes

Gespräch durch kreiste ihre Gedanken. `Manche Menschen leben in der Steinzeit`, dachte sie bei sich. Wie sonst erklärte man sich das es Menschen gab, die in der heutigen Zeit Kindergärten als Teufelswerk verdammten. Der junge Mann mit dem sie sich einige Minuten zuvor unterhielt, meinte doch wirklich ernsthaft, das Kinder einen seelischen Schaden davon tragen, wenn sie nicht von ihren Müttern aufgezogen werden. Schließlich ist es biologisch vorgesehen, das Frauen die Kinder betreuen und Männer für den Lebensunterhalt sorgen. `Zur Paarung hauen die Männer dann den Frauen die Keule auf den Kopf. Danach zerrt er sie in seine Höhle.´ Bei diesem Gedanken musste Chrisi schmunzeln. Mit einem Blick zur Seite

stellte sie fest, das Paul mit einem netten älterem Herrn ins Gespräch vertieft war. Oft schon ertappte sie sich dabei, wie sie Paul bei ausgelassen Diskussionen mit Passanten beobachtete. Seine aschgrauen Haare und seine blauen Augen verzückten die älteren Damen. Auch die Herren fühlten sich durch sein Auftreten nicht abgestoßen. Vermutlich lag es an seiner ruhigen Art, mutmaßte Chrisi. Eine ihr bedrohlich erscheinende Bewegung, die sie aus den Augenwinkeln wahr nahm, riss sie unsanft aus ihren Beobachtungen. Wenige Schritte von ihr entfernt, fasste sie ein großer breitschultriger nicht sehr freundlich dreinschauender Mann ins Auge. Als er bemerkte das sie seine Anwesenheit erfasste, stürmte er lauthals

schreiend auf sie zu. Mit Beleidigungen unterster Schublade hielt er sich nicht zurück. Zu voller Körpergröße aufgeplustert baute er sich vor Christiane auf. Mit seinem Zeigefinger fuchtelte er gefährlich nahe vor ihrem Gesicht herum. Ihr Herzschlag setzte für eine Sekunde aus. Zu unvorbereitet traf sie die Attacke. Instinktiv verlangte ihr Körper den Rückwärtsgang einzulegen. Ihre Beine bereiteten sich auf einen Supersprint vor und ihre Arme wollten sich schützend vor sie werfen. `So weit kommt es noch´, bestärkte sie sich. `Vor so einem Spinner ergreife ich nicht die Flucht.` Tapfer drückte sie ihre Schultern nach hinten. Kerzengerade einem kleinem Zinnsoldaten gleich, stand sie vor dem wild gestikulierenden Idioten. Mit festem

Blick schaute sie ihm in die Augen, dabei lächelte sie ihn freundlich an. Damit rechnete ihr Gegenüber nicht. Mittlerweile erregte die Szene David gegen Goliath, bei den umstehenden Passanten die Aufmerksamkeit. Wahrscheinlich weckte Chrisi in ihrem verzweifelten Versuch, den wütenden Riesen mit ihrem Lächeln zu besänftigen, deren Beschützerinstinkt. In wenigen Sekunden umrundeten sie mehrere Menschen. Einige stellten sich schützend vor sie. Immer noch gefangen in der voran gegangenen Situation, realisierte sie erst einige Augenblicke später, was um sie herum geschah. Wild diskutierend, lauthals über den Tumult der anderen hinweg brüllend, versuchten einige Anwohner und Besucher

des Flohmarktes den Angreifer klar zu machen, das seine rechten Parolen hier nicht erwünscht waren. Dankbar für die Hilfe blickte sie zu ihren Rettern. Wenige Minuten später erschien die von einem Passanten herbei gerufene Polizei. Sie belehrte den „freundlichen“ Herrn seine Beleidigungen zu unterlassen. Dieser gelobte Besserung. Chrisi und Paul bedankten sich bei den Beamten. Man verblieb mit der Vereinbarung, das sollte der Übeltäter erneut zum Angriff blasen, die Herren wieder kämen. Die Nummer unter der sie zu erreichen, sei ja bekannt. Michaela und Karl kehrten von ihrem Ausflug zurück. Schnell klärte Paul sie über die vergangenen Geschehnisse auf. Die letzte Stunde verlief einigermaßen

friedlich. Ab und zu ließ sich der Unbelehrbare dazu hinreißen seine Meinung über die „ Pinken Strümpfe“ allen Anwesenden ungefragt mitzuteilen. Zeitweilig verfolgte er Michaela quer über den Platz, die sein aufdringliches Verhalten mit den Worten kommentierte: „ Guckt mal, ich habe einen Hund der mir nachläuft.“ Bald ermüdete er jedoch. Die Glockenschläge der nah gelegenen Kirche kündigten das Ende des samstäglichen Infostandes an. Die Vier packten zusammen. Erschöpft traten sie den Heimweg an. Zurückblickend stellten sie fest, das der Infostand auf ganzer Linie ein Erfolg darstellte. Denn Dank des „Wutbürgers“ fanden ihre Prospekte reißenden Absatz. Trotz der unangenehmen Begegnung, oder

vielleicht auch gerade deswegen, stand fest, das sie sich dort öfters mal zeigen mussten. Schließlich konnte man dem braunen Gesocks nicht das Feld überlassen.

0

Hörbuch

Über den Autor

Ameise
Wollt Ihr etwas über mich erfahren, dann lest meine Texte.
Viel Spaß.
P.S. Freue mich über Feedback. (Es darf auch Kritik geübt werden, bringt einen weiter.)

Leser-Statistik
43

Leser
Quelle
Veröffentlicht am

Kommentare
Kommentar schreiben

Senden
Frieden37 Mutig und konsequent.
Vor langer Zeit - Antworten
Wortspiel37 Sehr gut verhalten von den Pinken Strümpfen.
Vor langer Zeit - Antworten
tooshytowrite Wenn ich bloss einen Lehrgang bei Chrisi nehmen könnte, wahrscheinlich wäre mir gar nicht in den Sinn gekommen, lächelnd stehen zu bleiben. Stehen bleiben statt zurückbrüllen vielleicht schon, aber mein Lächeln wäre verachtungsvoll und hönisch geworden. Ich strick mal pinke Solidaritätssocken gegen kalte Füsse. GLG
Vor langer Zeit - Antworten
Ameise Die kann sie brauchen. Vor allem in pink.
Vor langer Zeit - Antworten
Ameise Danke, aber ich dachte Wut kann man nur durch Freundlichkeit ausbremsen. Ich versuche auch schon Socken zu stricken. Sie sind mit Sicherheit nicht schön, aber warm. Lg das Krabbeltier
Vor langer Zeit - Antworten
tooshytowrite Spontane Wut bestimmt, bei aufgestachelter Wut bin ich nicht fähig dazu. Wenn mir der Wüterich dazu noch unsympatisch ist, ist sowieso Sense. Tragen Ameischen Handschuhe an den Vorderbeinen? ;-)
Vor langer Zeit - Antworten
Ameise Ja Fingerfrei.
Vor langer Zeit - Antworten
Phantasus Liebe Anja, ein sehr authentischer Erlebnisbericht. Weiteres schreibe ich dir morgen privat.
Liebe Grüße
Ekki
Vor langer Zeit - Antworten
Ameise Ich danke Dir Ekki. Lg Anja
Vor langer Zeit - Antworten
Albatros99 Liebe Ameise, ich habe heute das erste Mal bei dir gelesen, dieses Buch, und ich gehe mal davon aus, dass du noch der etwas jüngeren Generation, so wie Chrisi, angehörst (und auch noch westlich der Elbe wohnst?) Hut ab und alle Achtung für diesen engagierten Beitrag. Sollte es mehr von deiner Sorte geben, dann wäre Polen, wie in der Operette heißt (ich meine Deutschland) ja vielleicht doch noch nicht verloren. Momentan halte ich es eher mit meinem Lieblingsdichter Heinrich Heine. "Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht," Aber Heine zitiert ja auch in der Schule keiner mehr, vielleicht weil er Jude oder zu weit links war?
Du sprichst mit deinem Buch nicht nur den immer weiter erstarkenden Rechtsextremismus an, gegen den die etablierten Parteien fast durchweg kein Mittel finden(wollen), sondern auch viele Grundübel des bestehenden Gesellschaftssystems, und das finde ich beeindruckend, lese ich es doch erstmalig hier bei mystorys in der Form. Außer PEKABERLIN äußert sich kaum jemand dazu. Gratulation zu so viel Mut.
Wir lesen uns bestimmt wieder.
Herzliche Grüße
Christine
Vor langer Zeit - Antworten
Zeige mehr Kommentare
10
25
0
Senden

139750
Impressum / Nutzungsbedingungen / Datenschutzerklärung