Horror Vacui
Unterzubringende Wörter
Terrassenbeleuchtung
vorausschaubar
Programm
Karton
organisch
Stille
Flanellmantel
Schneesturm
Ziegenpeter
Horror Vacui
Lisa starrte auf das Blatt Papier, doch ihr Hirn war so leer wie das Blatt. Irgendetwas musste ihr doch mal einfallen! Der verdammte Aufsatz wollte und wollte nicht, dabei war übernächste Woche Abgabe. Sie kaute auf dem Ende ihres Kulis herum, legte ihn beiseite, nahm ihn wieder auf, kaute weiter darauf herum. Die Kaubewegung brachte - wie vorausschaubar - die Schmerzen zurück. Seufzend legte sie den Kuli weg und gab auf. Heute brächte sie nichts mehr zustande. Sie sah auf die Uhr. Es war sowieso wieder Zeit für ihre Tabletten. Also
nahm sie eine aus dem Karton und schluckte sie widerwillig hinunter. Wieso mussten auch Erwachsene noch Kinderkrankheiten bekommen können?
"Sie haben Mumps, im Volksmund auch Ziegenpeter genannt", hatte der Arzt ihr erklärt. "Keine Sorge, solange Sie keine weiteren organischen Beschwerden bekommen, ist das in ein paar Tagen ausgestanden. Ein wenig Fieber und die entzündeten Speicheldrüsen sind die typischen Symptome, aber das lässt sich leicht behandeln. Hier, nehmen sie diese Tabletten alle 8 Stunden, dann haben Sie es bald hinter sich." Lisa presste die Zähne aufeinander, bis sie knirschten. Der Knilch
hatte das alles viel zu locker gesehen.
"Seien Sie froh", hatte er noch gescherzt, "denn so sind Sie danach immun und brauchen keine Impfung mehr. Röteln hatten Sie ja als Kind schon, und damit sind zwei der gefährlichsten Krankheiten während einer Schwangerschaft schon mal ausgeschaltet."
Als ob sie Kinder bekommen würde! Dazu fehlte ihr ja schon einmal der Mann. Missgelaunt sah Lisa das Fernsehprogramm durch. Schrott, Müll, Mist, Abfall und – keine neue, aber eine eigene Kategorie an Fernsehscheiß – RTL. Wütend ließ sie die Zeitschrift fallen und ging ins Bad. Vielleicht würde eine Dusche die Spinnweben aus ihrem Hirnkasten vertreiben.
Nur in ihren Flanellmantel gehüllt kam sie wieder herunter. Sie sah durchs Fenster die letzten Strahlen eines wunderbaren Sonnenuntergangs und entschied, sich wenigstens einen schönen Abend zu gönnen. Da die Tabletten mit Alkohol unwirksam wurden, kochte sie sich einen Kakao, machte sich ein paar Waffeln mit Kirschen und Sahne, schaltete die Terrassenbeleuchtung an und setzte sich nach draußen in die abendliche Stille.
Es war schon ein komisches Wetter diesen Winter. Anstatt Matschwetter oder gar Schneesturm hatten sie fünfzehn Grad und Sonnenschein. Am Morgen hatte sie sogar Singvögel gehört. Dafür war der August der
kälteste seit Beginn der Wetteraufzeichnung gewesen.
Ihre Gedanken wanderten wieder zu ihrem Aufsatz. Eigentlich war das ihre leichteste Übung: keine Vorgaben, außer dem Thema „Ungewöhnliches oder Unmögliches“ und „maximal 10.000 Wörter“. Gut, sie konnte vermutlich eine Menge auf ihre Krankheit schieben – mit Fieber schrieb sich schlecht –, aber sie hatte nicht die Zeit, den verschobenen Abgabetermin wahrzunehmen, denn um die Zeit hatte sie ein Volontariat beim WDR, und sie wollte kein ganzes Semester dranhängen. Durch die Terrassentür sah sie das Blatt Papier auf dem Küchentisch liegen. Die Weiße
Leinwand, bereit, mit den Farben ihres Wortschatzes bemalt zu werden! Und sie saß hier, im sommerlichsten Winter aller Zeiten, drei Tage vor Heiligabend, trank Kakao und aß Waffeln, und war ideentrocken wie die Sahara der Kreativität. Allein der Gedanke, sich wieder dort hinzusetzen, frustrierte sie, genauso sehr, wie sie der Gedanke, sie könnte es nicht schaffen, entsetzte. Ein Geräusch ließ sie aufhorchen. Das klang wie ein Vogel! Aber welcher Vogel sang denn in der Dämmerung? War das etwa eine Nachtigall? An Wintersonnenwende?
Plötzlich setzte Lisa sich auf. Eine Idee war ihr ins Bewusstsein geschossen. Sie stürzte zu dem Blatt Papier, schnappte sich ihren Kuli
und setzte in die Kopfzeile in großen Blockbuchstaben den Titel:
WINTERSOMMERWENDE