Als Kind hatte er Scharlach und die Krankheit schüttelte ihn mächtig durch, bis die roten Pusteln verschwanden und er ein für allemal von ihr geheilt war. Dachte er jedenfalls.
Als junger Mann besuchte er gelangweilt eine Party, von der er nichts Besonderes erwartete.
Der Gastgeber hatte tolle Weiber angekündigt, doch die kannte er zur Genüge: aufgedonnert nach der letzen Mode, Partygeschwätz nach der letzen Mode, Verführungsversuche nach der letzen Mode. Nun ja, er hatte nichts Besseres
vor.
Es war alles so, wie er es erwartet hatte: Die Szene feierte ihre Oberflächlichkeit, durchsichtig mit ein paar auswendig gelernten Sprüchen kaschiert. Die tollen Weiber waren austauschbar wie ihre Redensarten von der Stange, wie ihr geschmacklos zusammengestellter Markenputz.
Er wollte gerade gehen, als er ihr scharlachrotes Kleid aus einem Winkel im Halbschatten des Kerzenlichts leuchten sah. Die Farbe zog ihn magisch an und dann stand er vor ihr und ließ wie ein Automat seine Sprüche los: Natürlich war ihr dunkles Haar
ebenholzschwarz und ihre grünen Augen schimmerten wie Smaragde in der Dunkelheit. „Ihr Kleid, ja, lassen sie mich raten, es ist rubinrot, nein, es ist purpurrot, das trifft es auch nicht, es ist scharlachrot, scharlachrot wie die Sünde. Unwiderstehlich, ach, und ihr Lippenstift passt zu dem Kleid. Unforgetable.“
Es dauerte nicht lange, und er hatte sie hinausschwadroniert in seinen gelben Ferrari, in dem das scharlachrote Kleid in verstörendem Kontrast der Signalfarben brannte. Am liebsten wäre er über sie hergefallen. Doch er schaffte es noch bis in seine pretiöse Villa, wo er
ihr den scharlachroten Fummel vom Leibe riss.
So ging das wochenlang, nur mit dem Unterschied, dass er nicht mehr auf sie einreden musste. Sie kam freiwillig, immer im scharlachroten Kleid, das ihn elektrisierte wie am ersten Abend. Sie sprachen nicht viel und es war ihm recht so. Wozu Zeit verschwenden, wenn die Sinne überdeutlich rauschten?
Sie wurden auch nicht stiller, als sie anfing zu reden, nach der letzen Mode, und immer mehr Scheinchen in ihrem scharlachroten Portemonnaie verschwanden. Zwar fing er wieder an zu denken, aber die illusionslose
Klarheit stellte sich, so wie früher, nicht ein. Er begriff nur eines: Er war ihr hörig und das musste ein Ende haben.
Als sie ermattet eingeschlummert war, verbrannte er das scharlachrote Kleid.
In ihren Augen stand eine Träne, aber sie beklagte sich nicht. Er fuhr sie nach Hause und dachte: Das wars.
Es folgten Tage mit Qualen der Sucht. Immer wieder die Hand am Telefon und im letzten Moment zurückgezogen. Dann kam die Erkenntnis: Lieber hörig sein wie ein Hund als diese Tantalusqualen.
In diesem Moment stand sie vor der Tür
im scharlachroten Kleid.
Er stürzte sich in den wieder gewonnenen Rausch. Aber sie hatte verstanden, verspätete sich bei Verabredungen oder erschien gar nicht, hielt ihn hin. Wenn er in Selbstmitleid versank, einsam um Erlösung winselte, war sie plötzlich da, verschwand abrupt und spannte ihn wieder auf die Folter. Er wusste, dass es ihm nichts half, wenn er das Kleid noch einmal verbrennen würde.
Früher hatte er wenig gelesen. Jetzt überbrückte er die Wartezeiten mit Hardcore-Krimis. Er flog auf Titel wie: „Mach eine Ende, Marc“, „Der perfekte
Mord“, „Befreiung“.
Wie es ausgeht, möchten Sie wissen. Entweder legt er Hand an sich oder an sie. Was meinen Sie, wie er sich entschieden hat? Sie sollten wissen: Er kannte das süße Leben, ohne das scharlachrote Kleid.
©Ekkehart Mittelberg, Januar 2016