LaCRIMOSA
Musik:
Lacrimosa aus Wolfgang Amadeus Mozarts letztem Werk, dem Requiem KV626, das er leider nur noch etwa zu zwei Dritteln selbst komponieren konnte, bevor er am 5.12.1791 starb.
LACRIMOSA
Nun sitze ich wieder hier – vor dir, du grausames Papier.
Leere gähnt mich an. Meine Gedanken sind entschwunden, fernab, irgendwo im Nirgendwo. Tage kommen und gehen – kommen und gehen. Längst kann ich sie nicht mehr verstehen. Möchte weiter, doch ich bin noch gar nicht angekommen. Kindheit, Jugend, schönstes Alter, alles nur ein Traum? Nichts davon war festzuhalten. Habe Pläne geschmiedet, immer nur an die Zukunft gedacht – und unbemerkt machte Vergangenheit sich breit. Sie schmerzen: die verpassten
Chancen, die ungenutzten Talente, der blinde Gehorsam und das endlose Angepasst-Sein.
Du weisses Papier – unbefleckt und dennoch ohne Erbarmen – hältst du die Farben vor mir verborgen; zeigst sie nicht, schenkst mir kein Lächeln.
Im Fehlerlosen verstecken sich die gröbsten Fehler, im Gefühllosen die grösste Gewalt. Niemandem auf den Schlips zu treten, ist Selbstzerstörung. Unterdrückung staut sich zum Qualensee.
Dies bedarf einer Erklärung, doch es gibt sie nicht.
Freilich weiss ich, was in dir steckt – du
makelloses Nichts. Fordernd tauche ich die Feder in blaue Tinte und werde dir Freiheit entlocken!
Will dir von meinem Leben berichten, dich besudeln und beklecksen.
Über dir vergiesse ich meine Tränen. Sie verschmieren die Schrift stellenweise bist zur Unleserlichkeit – vielleicht ist es auch besser so. Geduldig nimmst du alles auf und trocknest den See. Ecken und Kanten, Schwächen, sensibles In-sich-gehen, stille Trauer – ich verschone dich nicht.
Du ringst mir ein befreiendes Lachen ab, auch das bewahrst du auf – wie leicht es dir fällt. Unmut und Selbstmitleid über
Verpasstes und Ungenutztes verblassen.
Ich wende mich dem Leben zu.
Du gebrauchtes Papier – scheinst mir auf einmal sympathisch!
Hast deine Reinheit abgelegt und Leere mit Geschichte gefüllt – bist ein Unikat.
Viel Zeit wurde mir geschenkt, sie war mein und wird mein. Was gestern war, ist nicht mehr zu ändern. Der Zukunft aber ist es untersagt, im Schnellzugstempo unbewusst vorbeizuziehen.
Sie muss nicht perfekt sein, doch dürfen Freude und Liebe nicht fehlen – sie sind die Farben des Lebens.
Und wenn mich einst der Tod anspricht, wird er das Lächeln eines wahren Freundes sein.