Frühling 1901, Kyoto
Ein Mann im weißen Kittel trat ein. Als er näher kam, versuchte ich meine Fesseln loszureißen und von ihm wegzukommen. Doch es war aussichtslos. Die Lederriemen waren festgezurrt und zudem legten sich zwei schwere Hände auf meine Schultern. Der Mann trug ein schmutziges Lächeln ins Gesicht geritzt und aufgrund der Lichtreflexion in seiner Brille konnte ich seine Augen nicht sehen. Er blieb nur wenige Zentimeter von mir entfernt stehen, beugte sich herab und packte mich mit eisernem Griff am Kiefer. Wie eine Ware, die er zu kaufen gedachte,
drehte er meinen Kopf hin und her und betrachtete mich. „Ich denke“, näselte er, „wir sollten noch einige Test an ihm durchführen. Dann erst kann ich sicher sein, welches Leiden den Patienten plagt.“ Von was für Tests sprach er da? Und was für ein Leiden? Ich konnte mir letzteres eigentlich schon denken, doch in dem Moment war mein Kopf leer. Wo war ich hier überhaupt? Und würde sie mich dort behalten?
Noch bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, wurde ich wieder von den Fesseln befreit und von zwei Männern an jeweils einem Handgelenk gepackt. Sie schliffen mich durch die Korridore und ich versuchte mich nach
Leibeskräften zu wehren, doch die Angst raubte mir jegliche Stärke. Irgendwann blieben sie stehen. Einer von ihnen schloss eine eiserne Tür auf, dann zogen sie mich in den Raum und warfen mich wie Müll in eine Ecke. Bevor ich reagieren konnte waren sie wieder draußen und die Tür fiel ins Schloss. Ich hörte das metallische Klacken, des Schlüssels, welcher die Tür verschloss. Dann die Schritte die auf den hallenden Korridoren langsam verebbten. Ich war allein.
Der Raum besaß keine Fenster. Die einzige Lichtquelle war eine kleine Öffnung in der Tür, durch den die Außenstehenden einen beobachten
konnten. Von dieser Öffnung fiel ein trüber Lichtstrahl herein. Die Dunkelheit schlich um ihn herum und beäugte ihn misstrauisch. Ich zog mich in eine Ecke des Raumes zurück, zog die Beine an die Brust und legte meine Stirn auf die Knie. Was würden sie mit mir machen?
Sommer 2015, Kyoto
„Ja, so heißt es jedenfalls“, meinte Chaos und ließ den Blick durch den Empfang wandern. „Weißt du auch, in welcher Psychiatrie er ist?“, fragte Mizusu und auch wenn sie anfangs dachte es sich eingebildet zu haben, so hatte sie bemerkt, wie Chaos zusammen zucke. „Also, ein bekannter von mir meinte Mal in der Klapse in der er war, wäre Akuma. Aber ich glaub nicht, dass das stimmt“, erklärte der Punk zögerlich. Doch Mizusu wollte keine Möglichkeit auslassen und blieb so lang beharrlich, bis Chaos ihr den Namen der Klinik verriet. „Sie liegt auf der Insel
Okinoshima am Fuß des Tokiharisan“, erklärte der Punk. Mizusu zückte ihr Handy und tippte die Daten ein. Eine Weile lang saßen die beiden einfach nur da und warteten, dass etwas passierte. Dann irgendwann fragte Mizusu: „Wie alt bist du eigentlich?“ Chaos sah sie an. „17, wieso?“, antwortete er. „Nur so. Ich bin 16.“ Wieder schweigen.
Die Tür zum OP schwang auf und Isuya stand auf. Auch Mizusu war aufgestanden. Sie sah Chaos an, welcher ihr mit einem Kopfnicken verdeutlichte, es wäre ok, wenn sie jetzt ginge. Die 16 – Jährige lief über den Gang zu dem Krankenbett, welches gerade aus dem OP geschoben wurde. „Yuki? Yuki,
kannst du mich hören?“, fragte sie mit heiserer Stimme. Wieso war ihre Stimme auf einmal so seltsam? Eben bei Chaos war alles noch in Ordnung gewesen. Sie sah in die Richtung, aus der sie gekommen war. Chaos war verschwunden, als sei er nie dort gewesen. Doch Mizusu beschloss nicht weiter nachzudenken. Es war nun wichtiger sich um Yuki zu kümmern.