Fräulein Rottenmeiers Leinwand
von
Schnief
Kurzgeschichte zum Thema : „Weiße Leinwand“ und folgenden Vorgabewörtern:
Terrassenbeleuchtung
vorausschaubar
Programm
Karton
organisch
Stille
Flanellmantel
Schneesturm
Ziegenpeter
Heidi und der Ziegenpeter ließen fast Clara fallen, die zwischen ihnen hing, als sie das Fräulein Rottenmeier in ihrem Flanellmantel erblickten. Sie standen und staunten. Unter der der schwach schimmernden Terrassenbeleuchtung stand Fräulein Rottenmeier, vor ihr stehend eine Staffelei mit einer noch weißen Leinwand.
„Seht nur, wie sie verzückt die Berge betrachtet“, flüsterte Heidi in diese unheimliche Stille hinein.
„Kein Wunder“, entgegnete ihr der Ziegenpeter genauso flüsternd.
„Wieso? Was ist denn?“, japste Clara, die langsam versuchte sich zu stellen.
„Da zieht ein Schneesturm auf“, meinte
Peter und zeigte auf eine weiße Wand, die langsam aber sicher immer schneller auf sie zukam.
In diesem Augenblick trat der Großvater aus der Hütte, der den ganzen Tag über Käse hergestellt hatte. Er erfasste blitzschnell die Situation und rief den Kindern zu:
„Schnell, seht zu, dass ihr in die Hütte kommt!“
Fräulein Rottenmeier erschreckte sich bei seinem lauten Ruf, ließ ihren Pinsel fallen. Ihre Verzückung über das Panorama der Bergwelt verwandelte sich in Panik.
„Wo ist Clara?“, rief sie
hysterisch.
„Keine zwei Meter links von ihnen“, entgegnete ihr der Almöhi, während er in diesem Moment Clara auf den Arm nahm und sie zur Hütte trug.
„Heidi, bringt die Ziegen in den Stall und Peter; du die anderen hinter die Hütte unter die Tannen, dort sind sie geschützt.“
Ein eisig kalter und böiger Wind kam auf.
Die weiße Leinwand von Fräulein Rottenmeier wurde vom Wind fortgetragen.
Peter und Heidi gehorchten und brachten unverzüglich die Ziegen in Sicherheit,
während Fräulein Rottenmeier den Karton mit den organischen Farben in die Hütte trug.
Während Heidi die Ziegen des Almöhis in den Stall brachte und sie mit Futter und etwas Wasser versorgte, hatte Peter die anderen Ziegen hinter die Hütte in Sicherheit gebracht. Einige Minuten später trat auch er in die Hütte ein, grinste breit und übergab Fräulein Rottenmeier mit den Worten die immer noch weiße Leinwand: „Hing in den Tannen, hab se raus holt.“
„Danke Peter“, bedankte sie sich, aber wie immer, meinte sie belehrend: „Die Leinwand hat sich in den Tanne
verfangen und ich holte herunter.“
„Von mir aus“, grinste der Ziegenpeter, setzte sich an den großen Holztisch, schob sich in der nächsten Sekunde ein großes Stück Brot mit einer dicken Scheibe Ziegenkäse in den Mund, weil ihn der Almöhi aufmunternd zulächelte.
„Das Wetter ist doch heute vorausschaubar gewesen!“, zischte jedoch Fräulein Rottenmeier den Almöhi an.
„Leider nein, Fräulein Rottenmeier, sonst hätte ich die Kinder nicht ziehen lassen“, entgegnete er ihr gelassen.
Inzwischen pfiff der Wind gewaltig und
nach dem Mahl hingen die Kinder am Fenster und schauten den wirbelnden Flocken zu. Innerhalb von Minuten hatte sich die Landschaft des Spätsommers in ein herrlich anzusehendes Winteridyll verwandelt.
Später, als der Wind nicht mehr so kräftig heulte, schaute der Almöhi mit dem Ziegenpeter nach den Tieren.
Nachdem sie wieder in die Hütte eintreten sind, erklärte der Almöhi Fräulein Rottenmeier:
„An einen Abstieg, jetzt nach Einbruch der Dunkelheit und dem frisch gefallenden Schnee ist heute nicht mehr zu
denken.“
„Das passt überhaupt nicht in mein Programm, wo bleiben nur die Leute aus dem Dorf?“, schmetterte sie ihm ziemlich entrüstet entgegen.
„Es geht hier in den Bergen nicht nach ihrem Programm, meine Liebe! So ein Wetterumschwung kann jederzeit passieren. Niemand wird bei solch einem Wetter herauf steigen. Finden Sie sich am besten gleich damit ab“, sprach er mit fester Stimme.
Kurze Zeit später richtete er ein weiteres Nachtlager für Fräulein Rottenmeier ein. Die Kinder waren nach dem aufregenden Tag müde und auf dem Dachboden hatten
sich ins Heu gelegt, dort schauten sie durch das runde Fenster den tanzenden Flocken zu, bis ihnen die Augen zufielen.
Doch Fräulein Rottenmeier konnte nicht schlafen, stattdessen begann sie ihre weiße Leinwand in eine Winterlandschaft zu verwandeln. Der Almöhi hatte sich seine Pfeife gestopft und schaute ihr interessiert zu. Erst nachdem sie den letzten Pinselstrich ihr Bild vollendet hatte, entfuhr ihm,
„Wundervoll, Fräulein Rottenmeier“, und sie bekam vor lauter Freude richtig rote Wangen.