Kurzgeschichte
gewachsen - RB/ FB47

0
"gewachsen - RB/ FB47"
Veröffentlicht am 04. Januar 2016, 10 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
© Umschlag Bildmaterial: glorcza - Fotolia.com
http://www.mystorys.de

Über den Autor:

Manchmalschreiberin Gerneleserin
gewachsen - RB/ FB47

gewachsen - RB/ FB47


Randbeitrag zum FB 47


Thema "weisse Leinwand"

zu verwendende Worte


Terrassenbeleuchtung vorausschaubar Programm Karton organisch Stille Flanellmantel Schneesturm Ziegenpeter


Mein Körper wogte in der Menge, getragen vom Rhythmus der Musik und meines eigenen Herzschlages. Draussen tobte der Schneesturm und zog mir wie so einiges andere immernoch aufwühlend durchs Gemüt. Es war gut jetzt hier auf der Tanzfläche zu sein, der Raum ausschliesslich beleuchtet durch die grosse Leinwand, auf der sich psychedelische Muster ihren Weg bahnten.

Am liebsten hätte ich mir heute einen ganze Karton Jägermeister reingezogen, aber Alkohol tat mir nicht mehr gut. So musste ich zu anderen Mitteln greifen um mich abzulenken von den

immerwiederkehrenden Gedanken an Karins Eröffnung.


Sie hatte sich Ziegenpeter Käse einverleibt, eine Lappalie, die sich mir dennoch ins Gedächtnis eingebrannt hatte, während sie mir eröffnete, daß sie sich endgültig operieren lassen wollte. Die Terrassenbeleuchtung strahlte postweihnachtliches Glitzerlicht in unser Wohnzimmer und ich wusste, daß der Moment gekommen war, an dem ich mich einigen Tatsachen gegenüber nicht mehr verschliessen konnte.

Es war vorausschaubar gewesen, aber es war doch ein spürbarer Unterschied, ob etwas gedanklich da ist oder endlich

durch Realität ersetzt.

Sie wolle jetzt das ganze Programm. Nicht nur Hormone, nicht nur der Name, sie wollte das ganze alte, abgelegte komplett hinter sich lassen und ganz ins neue, aber für sie so vertraute hinein. Nicht mehr Kurt als Karin, sondern Karin pur. Ich war nach kurzem Gespräch erstmal aus der Wohnung gestürzt, ins Auto und hierher, an diesen lauten Tanzort. Spätestens jetzt wurde mir klar, ich musste mich entscheiden. Wollte ich wirklich meine Ehe weiterführen, mit Karin , einer Frau, als quasi lesbische Ehepartnerin.

Einst durch und durch hetero.


Ich hatte Kurt vor vielen Jahren lieben gelernt, hatte ihn begleitet, als er mir von seinen Empfindungen berichtete, nicht im passenden Körper zu sein. Wir hatten in stundenlangen Gesprächen, vielen gemeinsamen und alleine geweinten Tränen, Zorn auf Gott und die Welt, Lachen, Erleichterung und vielen endlosen einsamen und gemeinsamen Spaziergängen tiefe Einblicke in uns selbst und ineinander gewonnen. Eine Nähe war dadurch entstanden, die ich zuvor mit keinem Menschen teilen konnte.


Ein quasi organisches Ineinanderwachsen zweier Seelen, die dennoch zunehmend zu Individuen heranreiften. Deren Körper sich auch immer wieder neu kennenlernen mussten und durften.


Eins der beiden Individuen tanzte sich gerade, jetzt, für heute einmal aus all dem raus. Starrte dabei auf die Leinwand und erkannte plötzlich, daß diese hinter all dem Licht dennoch weiss blieb. Stets und ständig.



Egal was der Projektor sendete - die

Leinwand blieb unberührt wie sie war. Kurt. Karin. Der Kern, die Person, die ich liebte, die ich geheiratet hatte, auch sie war und ist immer im Kern dieselbe. Ebenso ich.


Die Liebe war entstanden und gewachsen zwischen uns beiden. Plötzlich sehnte ich mich nach meinem Flanellmantel, wollte mich hineinkuscheln, mich ganz geschützt und bei mir seiend neben Karin setzen. Noch auf dem Papier mein Ehemann, bald meine Ehefrau. Mit allem, was für sie dazugehört.


Die OP... .

Die sie auch körperlich zur kompletten Frau machen würde. Ich möchte Karin einfach einen Kuss geben und die Stille der zwischen uns entstandenen Liebe geniessen. Diese Stille nahm ich jetzt entspannt in den Rhythmus der Musik hinein, fliessend und froh, Klarheit in mir zu spüren, das „Ja“, das wir uns gegeben hatten weiter in mir leben lassen zu wollen und können.
Noch dieses eine Lied, und dann würde ich nach Hause fahren.


Mal schauen, ob Karin noch wach ist. Wenn nicht kuschle ich mich neben sie in unserem lang vertrauten Ehebett.

0

Hörbuch

Über den Autor

Himbeere
Manchmalschreiberin
Gerneleserin

Leser-Statistik
18

Leser
Quelle
Veröffentlicht am

Kommentare
Kommentar schreiben

Senden
GertraudW 
Dieses (leider) immer noch heikle Thema hast Du in dieser
Geschichte mit so viel Einfühlungsvermögen beschrieben,
dass es mir einen Kloß im Hals verursacht hat.
Ich kann in etwa nachfühlen was diese Menschen mitmachen
müssen. Vor vielen Jahren hatte ich einen Kollegen - vorher
KollegIN ...
Liebe Grüße und einen schönen Nachmittag
Gertraud
Vor langer Zeit - Antworten
Himbeere Ja, wenn man mit dem Thema etwas näher in Kontat kommt, wird es etwas klarer, was es bedeuten kann diesen Lebensweg zu gehen. Ich freu mich über Deinen Kommentar :) LG Himbeere
Vor langer Zeit - Antworten
GertraudW 
Ich hatte in meiner Jugendzeit einmal eine Freundin, die war
intersexuell - ich glaube das ist noch eine Idee schlimmer ...
Ein Typ, in den sie damals verliebt war, hat das in unserem
Stammlokal publik gemacht und seitdem musste ich ihr immer
zur Seite stehen, wenn sie ausgelacht wurde. Eines Tages war
sie plötzlich spurlos verschwunden ... Später erzählte man mir,
dass sie sich umgebracht hätte!
Liebe Grüße an Dich
Gertraud
Vor langer Zeit - Antworten
Himbeere Oh, das ist eine heftige story.
Ja, ich stelle mir das auch schwer vor. Fast überall gibt es nur "männlich/ weiblich" anzukreuzen. Und es gibt doch einige Menschen, die gar keinem Geschlecht eindeutig angehören - schon allein rein genetisch gesehen. Entweder wurden sie nach der Geburt in eine "eindeutige" Richtung dann einsortiert, meist sogar operativ, oder aber sie sind in einer diesbezüglich bis heute wenig aufgeklärten Gesellschaft unterwegs....liebe Grüße auch an Dich Himbeere : )
Vor langer Zeit - Antworten
KaraList Ein Thema, das bei vielen verständnisloses Kopfschütteln auslöst, schlimmer noch, was nicht sein darf, gibt es auch nicht. Zugegeben, ein Hineinversetzen in Betroffene, die bisher in einer Heteropartnerschaft und dann - nach einer Geschlechtsumwandlung eines Partners - in einer homosexuellen Partnerschaft leben , fällt mir schwer. Wenn die beiden damit leben können, dann ist das in Ordnung - und das ist das Entscheidende.
Dieses Thema ohne Effekthascherei zu behandeln, ist Dir gelungen.
Gut gemacht!
LG
Kara
Vor langer Zeit - Antworten
Himbeere Danke für Deinen Kommentar :) . Ja, für die , die es erleben ist es sicher doppelt und dreifach herausfordernd. Erstmal sich selbst ernst nehmen mit all dem.Eben weil man das nicht täglich vorgelebt bekommt ein vermutlich langer Weg . In Kontakt mit sich und anderen Menschen bleiben und kommen, mit Ablehnung leben lernen . LG Himbeere :)
Vor langer Zeit - Antworten
Memory 
Hut ab, meine Liebe. Du beschreibst sehr gekonnt und gefühlvoll ein (leider) Tabu-Thema.
Vorstellen kann ich mir "so etwas" auch nicht, aber ich bin tolerant und kann nachvollziehen, dass es solche Dinge gibt. Für mich zählt, dass jeder mit der neuen Lösung glücklich sein kann, aber meistens bleibt einer auf der Strecke. Wenn es Kinder in der Beziehung gibt, sind oft auch die die Leidtragenden.
Ob es Vor-Zeichen gibt oder sich der jenige jahrelang versteckt, kann ein Aussenstehender sicher nicht beurteilen.
Deinen Protagonisten war das Thema nicht femd und das Ende sagt für mich aus, dass es noch irgendeine Zukunft für sie geben wird.
Gut gemacht!
Liebe Grüße
Sabine
Vor langer Zeit - Antworten
Himbeere Danke. Und ja, auch Kinder lernen oft früh, daß das Leben teils eine sehr eigene Handschrift mit sich bringt. Und es gibt zudem auch Kinder, die sich bereits im falschen Körper wähnen oder genetisch keinem der beiden gewohnten Geschlechter eindeutig zugehören. Für alle ist es vermutlich hilfreich, wenn sie Eltern haben, die sich der Thematik zumindest verständnisvoll , verstehen wollend annähern können. Ja, das alles ist verhältnismässig selten, aber wer damit lebt , für den bedeutet es das alltägliche Leben.. . LG Himbeere : )
Vor langer Zeit - Antworten
Loraine Eine Geschichte wie sie in manchem Leben zuträgt - nicht einfach in unserer Gesellschafts-Familien-Struktur und doch wichtig für diesen einzelnen Menschen. Ein Stück BEFREIUNG. Sehr schön formuliert! Loraine
Vor langer Zeit - Antworten
Himbeere Ja, das sind wirklich sehr spezielle und intensive Lebenswege :) LG Himbeere.
Vor langer Zeit - Antworten
Zeige mehr Kommentare
10
16
0
Senden

139416
Impressum / Nutzungsbedingungen / Datenschutzerklärung