1 - emilio
„Luan Hartmann.“ Die Stimme der Frau war kalt und trocken, ohne einen Hauch von Wahrnehmung darin. Nervös umklammerte Luan das Griffbrett und den Bogen. Die Noten würde er nicht brauchen, das Stück kannte er in- und auswendig, trotzdem war er froh, dass sie unter seinem Arm klemmten. Tief durchatmen. Du schaffst das. Dann betrat er den kleinen Raum. „Vorspiel Siebzehn, Luan Hartmann. Du spielst den Hummelflug, richtig?“ Diesmal sprach ein Mann um die dreißig; er wirkte freundlich aber bestimmt. Unfähig, ein Wort hervorzubringen, nickte Luan und strich sich die schwarzen Haare aus dem Gesicht.
„Dann zeig uns mal was du kannst.“ Mit zitternden Fingern legte er den Bogen sanft auf die A-Seite und brachte seine linke Hand in die richtige Position. Auf einmal erfüllte ihn eine tiefe innere Ruhe, die unbeschreibliche Ausgewogenheit, die nur durch Musik ausgelöst werden konnte. Dann begann er zu spielen.
Tock. Das Taschenmesser blieb leicht zitternd im zerfurchten Holz stecken. Dann zog Luan es wieder hinaus und zielte erneut. Tock. Seufzend erhob er sich, klappte die Klinge ein und starrte nach Westen in den
Sonnenuntergang. Einer der wenigen Vorteile eines Landlebens. „Es gibt jetzt Essen, bitte komm herein.“ Die sanfte Stimme von Maria schwebte über die riesige Wiese bis hin zu dem kleinen Baumhaus, in dem Luan saß. Die Haushälterin war nicht gerade eine Frohnatur, trotzdem hatte sie ein ungewöhnliches Gespür für die Gefühlslage anderer Leute. Luans Vater hatte sie eingestellt in der Hoffnung, dass das Leben für ihn nicht ganz so einsam wäre, aber das änderte natürlich nichts daran, dass sie nicht wie seine Mutter war. Natürlich nicht, niemand war wie sie. Wunderschön, eine perfekte Köchin und verständnisvolle Zuhörerin, ein immerzu lachender Engel... „Luan, jetzt komm bitte, die Suppe wird kalt.“
Maria riss ihn aus seinen Gedanken, und leise vor sich hinsummend schlenderte er in Richtung des großen Hauses. Es war ein Fachwerkgebäude, Teil eines früheren Bauernhofes mit riesigen Landstücken und vielen halb verfallenen Ställen. Im Sommer waren dort immerzu Arbeiter zu sehen, doch im Dezember konnte niemand dort arbeiten, obwohl der Schnee nur wenige Zentimeter hoch lag. Im Wohnzimmer angekommen ließ er sich auf den erstbesten Stuhl fallen, und Maria brachte ihm sein Essen. Leise setzte auch sie sich. „Und, wie lief dein Vorspiel? Meinst du, dass jemand Interesse zeigen könnte?“ Innerlich tobte es in ihm, wie immer, wenn ihn jemand auf seine Musik ansprach. Natürlich liebte er die Musik, und Geige zu
spielen war für ihn die höchste Erfüllung. Nichts konnte das übertreffen. Aber seit ein paar Jahren schien sich niemand mehr für den realen, trauernden und einsamen Luan zu interessieren, nur für den talentierten Violinisten, der ab und zu auf verschiedenen Galen auftrat und so begabt war, dass er von den besten Musikschulen Stipendien angeboten bekam. Aber das war nur Show, eine einfache Fassade. Zwar war es nicht so, dass er keine Angebote bekam, aber sein Vater hatte gemeint, dass man immer ein bisschen flunkern müsse. „Es war in Ordnung. Keine Fehler, aber es hat nicht sehr schön geklungen. Wir werden sehen.“ Maria sah ihn an als würde sie weitere Erläuterungen erwarten, aber Luan ging nicht
darauf ein. Die Suppe war einfach, aber lecker, doch da er wusste, dass es später noch einmal etwas zu essen geben würde, aß er nurdie Hälfte und entschuldigte sich dann. Oben in seinem Zimmer hing der frisch gewaschene und gebügelte Konzertanzug, den er zur heutigen Benefizgala tragen sollte. Widerwillig zog er ihn an, dann nahm er seine Geige und sein Handy, um sich zum Aufbruch bereit zu machen. Die Veranstaltung würde wichtig sein; ein paar wichtige Politiker und Banker hatten ihr Kommen angekündet, und sich zu verspielen wäre ihm ziemlich peinlich.
Eine halbe Stunde später stand er vor der Tür, wo ihn der Vater seines besten Freundes abholen würde. Ferdinand und er kannten sich seit der Geburt, da ihre Väter
gute Freunde waren, und das schien sich auf die Kinder übertragen zu haben. Durch den hohen Einfluss von Ferdinands Vater waren die beiden bisher immer in der selben Klasse gelandet, und bei dem Gedanken musste Luan grinsen. Legal war das ja eigentlich nicht, aber das machte ihm nichts aus. Schon von weitem konnte er das Auto von Franz zu Sahrhage ausmachen; eine protzige Limousine mit allerlei Schnickschnack am Kühlergrill. Das Auto stand noch nicht einmal, da sprang schon ein kleiner und etwas schlaksiger Junge hinaus. „Lu, ich bin so froh, dich zu sehen“, rief er und lief auf Luan zu, der angesichts seines Spitznamens nur sein Gesicht verzog. „Ich auch Fer-“ begann er, dann wurde ihm von Ferdinand die Luft aus
den Lungen gequetscht. „R... reicht“, presste Luan hervor, und augenblicklich ließ sein Kumpel von ihm ab. „Äh, sorry“, grinste er, „steig doch ein. Und vergiss dein Instrument nicht“, bemerkte er mit einem Blick auf den Geigenkasten, den Luan vor der Umarmung in Sicherheit gebracht hatte.
„Weißt du, da ist dieser neue Junge mit seinen Eltern und seiner Schwester, die sind vor einer Wocher hierhergezogen. Der Junge ist in unserem Alter, die Schwester ein bisschen älter, aber ich sag's dir. Die ist soo geil! Ihre Beine sind der Hammer! Sie wird eine Stufe über uns in die Schule kommen.“
Verwirrt schaute Luan seinen Freund an. Dass dieser viel redete, war ihm bewusst, aber das war so ziemlich das erste Mal, dass er so ungehemmt über ein Mädchen sprach. Die musste es ihm wohl wirklich angetan haben. „Ich hoffe sie spricht mich mal an... Oder lieber nicht, ich würde direkt rot werden! Was meinst du,“ fragte Ferdinand seinen Freund. „Mann ehrlich Ferdi. Würdest du nicht in meine Klasse gehen, würde sie denken, dass du ein Fünftklässler bist... Wenn sie dich überhaupt beachtet.“ Lange konnten sie sich das Lachen nicht verkneifen, und erst als sie an der großen Villa angekommen waren hatten sie sich etwas
beruhigt.
Die Eingangshalle war brechend voll, aber das schien niemandem etwas auszumachen. Hier und da waren ein paar Leute in den frühen Zwanzigern, aber sonst entdeckte Luan niemanden in seinem Alter. Ferdi war wenige Minuten nach Beginn von einem Literaturprofessor zu einem Gespräch gebeten worden, es schien um ein Stipendium zu gehen. Auf einmal fiel sein Blick auf den weißen Flügel am Eingang und dann, nur wenige Sekunden später, auf ihn. Ein bildhübscher Junge, der ohne Zweifel in
Luans Alter war, und seine größere Schwester, die nicht im Geringsten so schön war, wie Ferdi sie beschrieben hatte. Der Blick des Jungen schweifte durch die Halle und streifte kurz, nur für einen winzigen Moment, Luans Blick. Auf einmal ertönte Ferdi's Stimme neben seinem Ohr. „Das, Luan, sind Emilio und Johanna Hellmich.“