Kapitel 3
Schmerz
Das Taxi hielt vor dem dunklen, sich in die Nacht erhebende Stadthaus meiner Großmutter.
Mit klopfendem Herzen stieg ich die steinernen Stufen hinauf. Der metallene Handlauf fühlte sich kalt und feucht unter meinen klammen Fingern an.
Erst am Morgen hatte ich dieses Haus verlassen, die Stätte meiner Kindheit, in der Gewissheit, ganz bald mit Lina zurückzukehren.
Der Gedanke, dass sie tot war, ließ mir
den Atem stocken. Wie gelähmt sank ich gegen die Balustrade des Eisengeländers, ließ den Kopf in den Nacken sinken und sah hinauf in den sternenklaren Himmel.
"Wo bist du?" Wie ein Gebet klang die Frage von meinen Lippen, während ich den vollen Mond, der sein warmes Licht auf mich herab goss, musterte. Gab es so etwas, wie ein Leben nach dem Tod? In diesem Moment wollte ich so gerne daran glauben. Mit tiefer Verzweiflung suchte ich den Himmel ab, in der Hoffnung, dort irgendein Zeichen meiner Großmutter zu finden. Eine Antwort auf die Frage, ob es ihr gut ging, wo immer sie war.
Mit einem tiefen Seufzer musste ich mir eingestehen, dass die Sterne unbeweglich
blieben. Nicht einmal eine Sternschnuppe machte sich mit gleißendem Schweif auf den Weg durch die Nacht.
Mit zitternder Hand führte ich den Schlüssel in Schloss. Fast lautlos sprang der schwere Holzverschlag auf und öffnete den Zugang zu der geräumigen Deele.
Es war der Geruch, auf den ich nicht gefasst war. So viele Male war ich durch diese Tür geschritten, ohne etwas wahr zu nehmen, wusste ich doch immer genau was mich erwartete. Umso mehr traf mich nun der Duft, welcher dieser Örtlichkeit anhaftete. Es war ihr Duft, Linas. Die Mischung aus Lavendel, Sauberkeit und alte Dingen, traf mich so
unerwartet, dass ich zu zittern begann.
Langsam sank ich auf die Knie. Der Gedanke, dass sie nie zurückkehren würde, in ihr geliebtes Haus, trieb mir neue Tränen in die Augen.
Der Mond warf sein goldenes Licht durch das Bullauge der Tür und leuchtete mit sanftem Schein die Ebene aus. Der alte Sessel, auf dem bis im letzten Jahr die fast blinde Katze ihren Platz gehabt hatte, warf einen dunklen Schatten. Ebenso die Kommode meines Uhrgroßvaters aus dem Neunzehnten Jahrhundert, welche direkt daneben stand. Ein Erbstück, auf das Lina besonders stolz gewesen war, und schließlich noch der schwere
Garderobenschrank aus dunklem Holz, direkt gegenüber, an der rechten Wand.
Ich erhob mich, trat an das Möbelstück und öffnete die Türen. Mit den Fingerspitzen strich ich behutsam über die Stoffe der Jacken, die mir so vertraut waren, wie meine Großmutter selbst. Ein Schmerz erfasste mich, der so tief und real war, dass sich die Welt um mich zu drehen begann.
Die Tragweite der ganzen Tragödie wurde mir mit solcher Klarheit und Schärfe bewusst, dass ich vor entsetzen die Luft anhielt.
Was sollte jetzt werden? Ohne Lina schienen die Uhren still zu stehen. Ihr vertrautes, warmes Lachen, die festen
Umarmungen, ihre lieben, tröstenden Worte, diese alles war auf Ewig verloren.
Nie wieder würde sie mich hier, in der Eingangshalle, in Empfang nehmen, während auf dem Herd bereits meine Lieblingsmahlzeit brutzelte, als Zeichen ihrer Freude, über meine Heimkehr.
Fortan würde ich die großen Feste des Jahres allein verbringen und es gäbe Niemanden mehr, der die größeren und kleineren Freuden des Lebens mit mir teilte. Niemand, der mit zwinkerndem Auge Geschichten aus meiner Kindheit berichten konnte, Niemanden, mit dem ich in der Vergangenheit schwelgen konnte.
Der Schmerz zog sich wie ein Krampf
durch meinen Körper. Mühsam schleppte ich mich die Treppe hinauf, ins erste Obergeschoss.
Von der schmalen, in Dunkelheit liegenden Galerie, gingen drei Türen ab. Das Bad, mein Kinderzimmer und die letzte Tür, welche in Linas Schlafzimmer führte. Ohne zu zögern steuerte ich darauf zu. Durch das hohe Fenster konnte ich beim Eintreten das Funkel der Sterne am Nachthimmel sehen. Atemlos blieb ich mitten im Raum stehen und fragte mich einen verzweifelten Moment, ob sie dort oben wohl war und ob sie sehen konnte, wie verzweifelt und einsam ich zurück blieb.
Schluchzend sank ich in das mächtige
Eichenbett, welches die Mitte des Raumes ausfüllte und hüllte mich in ihre wärmenden Decken ein, in ihren Duft. Es war fast wie eine Umarmung, ein letzter Abschiedsgruß, fuhr es mir durch den Kopf, bevor mir die, vom Weinen schweren Lieder zu fielen und ich völlig erschöpft, in einen schweren Schlaf sank.
Die Sonne warf ihr Licht strahlenförmig in das Wohnzimmer und hob, die in der Luft tanzenden Staubpartikel hervor.
Ich schob meinen Kaffeebecher auf den
Nussholztisch und ließ die Schlösser des Koffers, in dem meine Großmutter, Zeit ihres Lebens die wichtigsten Papiere aufbewahrte, mit einem schnalzenden Geräusch aufschnappen.
Mehr als ein Mal hatte sie mich darauf hingewiesen wo im Notfall was zu finden sei. Da nun dieser Notfall traurige Gewissheit geworden war, sah ich mich gezwungen, mich mit dieser Notwendigkeit auseinanderzusetzen.
Schon beim ersten Licht des neuen Tages hatte es mich aus dem Bett getrieben. Ich hatte das große Ungetüm von Reisegepäck, welches Lina sicher in dem Abstellraum unter dem Treppenhaus verwahrte, herausgezerrt und mühsam auf
den Wohnzimmertisch gehievt.Â
Angst schüttelte mich, von dem Moment an, da ich wusste, ich würde nun die privatesten Dokumente meiner Großmutter durchsehen müssen. Alexander hatte mich am Vorabend darauf hingewiesen, welche Unterlagen ich für das Bestattungsinstitut brauchen würde.
Nervös trank ich noch einen Schluck von meinem, mittlerweile kalten Kaffee, bevor ich den roten Lederdeckel anhob und einen Blick in das Innere des Koffers wagte. Der staubige Geruch alten Papieres schlug mir unwillkürlich entgegen. Ordentlich sortiert lagen foliierte Urkunden, Ordner, Stammbuch
und alte Bilder vor mir.
Ganz oben auf fand ich einen Briefumschlag mit meinem Namen darauf. Augenblicklich erkannte ich Linas Handschrift. Ein Schauer rann mir den Rücken hinab, als ich mit zittrigen Fingern das Kuvert öffnete.
Mein liebes Kind,
wenn Du diesen Brief liest, ist der Fall aller Fälle eingetroffen.
Ich wünsche mir von Herzen, dass Du das Haus übernimmst. Ich weiß, Du hast andere Pläne und wenn Deine Wege dich
in die Welt hinaus führen, dann sei dir gewiss, auch dafür hast Du meinen Segen. Solltest Du Dich jedoch für Hamburg entscheiden, wird Dir das Haus Deiner Kindheit, eine sichere Unterkunft bieten. Ein entsprechendes Testament habe ich beim Notar hinterlegt.
Da wir beide die Letzt Hinterbliebenen der Familie Hofmann sind, wirst Du keine Erbstreitigkeiten zu erwarten haben.
Du warst mir immer eine große Freude und hast mein Leben bereichert.
Sei nicht so traurig, mein Mädchen.
Wir sehen uns wieder.
In Liebe
Deine Lina
Laut schluchzend, wischte ich mir die Tränen vom Gesicht und warf einen Blick auf den Anhang des Briefes. Es gab eine Liste mit Angaben zur Gestaltung der Trauerfeier.
Liedwünsche für den Gottesdienst. Eine Namensliste der Menschen, die einen persönlichen Trauerbrief, so wie eine Einladung zum anschließenden Beisammen sein, erhalten sollten.
Sie hatte tatsächlich an alles gedacht. In
ihrer unglaublichen Weisheit und einfühlsamen Voraussicht, war es ihr gelungen, auch dem schwersten aller Tage, mit ein paar liebevoll verfassten Zeilen, den größten Schmerz zu nehmen.
Das Klingeln der Türglocke, riss mich aus der Tiefe meiner Gedanken und ließ mich erschrocken zusammen fahren.
Ein Blick auf die nostalgische Kaminuhr verriet mir, dass es schon nach neun Uhr war. Das musste Alexander sein.
Erneut überfielen mich Zweifel. Einerseits war ich überaus dankbar für das Angebot seiner Hilfe. Ich hatte nicht viel Erfahrung darin den Papierkram verstorbener Menschen abzuwickeln.
Andererseits hätte es sicher auch eine
andere Möglichkeit gegeben, Hilfe zu organisieren.
Beklommen und mit unangenehm drängend klopfenden Herzen öffnete ich die Haustür.
Unerschütterlich und gut aussehend, stand er auf der Türschwelle.
"Hey." Der tiefe Klang seiner Stimme drang ruhig an mein Ohr und besänftigte fast augenblicklich den Aufruhr in meinem Innern.
Mit besorgtem Blick musterten seine blauen Augen meine ausgezehrten Züge.
Weder Make up noch Rouge konnten von den tiefschwarzen Schatten unter meinen Augen ablenken.
"Du siehst nicht aus, als hättest du viel
Schlaf bekommen," stellte er fest, als ich zur Seite trat um ihn einzulassen.
Den Kopf leicht geneigt, trat er durch den niedrigen Rahmen in die Eingangshalle.
"Sehr schönes Haus, dass Deine Großmutter bewohnt hat." Bewundernd sah er sich um.
"Ja, das ist es. Es gibt sogar eine Veranda hinter dem Haus, mit einem kleinen, angrenzenden Garten. Sie hat es geliebt, hier zu leben..."
Ich wandte mich ab, in der Hoffnung, die brennenden Tränen in meiner Kehle eindämmen zu können.
"Möchtest du einen Kaffee," fragte ich heiser.
"Ich habe eben frischen aufgesetzt."
"Nein Danke."
Ich ging voran, in das lichtdurchflutete Wohnzimmer und trat, leicht verlegen, an das große Panoramafenster. Vielleicht bereute er es längst, mir so voreilig seine Hilfe angeboten zu haben. Vielleicht war es die pure Höflichkeit, die ihn heute Morgen hier her führte. Bestimmt würde er gleich sagen, es täte ihm leid, doch er hätte ganz vergessen, dass ein wichtiger Termin...
"Wie ich sehe, hast du die Papiere bereits sondiert."
Erschrocken fuhr ich herum und sah direkt in seine freundlichen, blauen Augen.
"Ich...ja...es ist alles in dem Koffer. Meine Großmutter war der Meinung, dass sie bei einem möglichen Brand,
so alles beisammen hat ohne lange suchen zu müssen," stammelte ich leise.
"Kluge Frau, deine Großmutter." Ein leises, ehrliches Lächeln umspielte seine Lippen und beschleunigte meinen Herzschlag. Ein Mensch, mit einem so offenen Ausdruck, konnte doch keine bösen Absichten hegen, oder war ich schlichtweg naiv?
"Ja, das war sie."
Mit einem leisen Aufstöhnen strich ich mir eine Strähne meines dunklen Haares hinter das Ohr.
"Alles okay?" fragte er sogleich besorgt.
"Vielleicht solltest du dich setzen. Das alles ist sehr Kräftezehrend und verlangt dir viel ab." Er machte ein, zwei Schritte auf mich zu, doch ich schüttelte abwehrend den Kopf.
Abrupt blieb er stehen und sah mich aufmerksam an.
"Du weißt nicht so genau , was du von mir halten sollst, hab ich recht."
Seine direkte Frage trieb mir die Scharmröte ins Gesicht, so dass ich beschämt den Blick senkte."
"Nein...ich...ja," gab ich schließlich ergeben zu und schluckte schwer, bis ich es schließlich wagte die Lieder zu heben und ihn direkt anzusehen.
"Es ist gut, dass du Zweifel hast,
Natalia. Du bist eine sehr attraktive Frau und zum jetzigen Zeitpunkt äußerst verletzlich."
Er atmete tief und strich sich dabei unbewusst das dunkle Haar aus der Stirn.
"Trotzdem liegt es mir fern diese Situation zu meinen Gunsten auszunutzen. Ich weiß lediglich, aus eigener, leidvoller Erfahrung, wie du dich gerade fühlst."
Ein Schatten verdunkelte das Saphirblau seiner Augen. Sekundenlang senkte er die Lieder, so dass nur der dichte dunkle Wimpernkranz zu sehen war.
"Auch ich habe im letzten Jahr einen Menschen verloren. Ich weiß, wie schmerzhaft es ist Abschied zu nehmen,
wenn man noch nicht bereit dazu ist."
Er schluckte schwer und sah mich dann mit entwaffnender Ehrlichkeit an.
"Aber manchmal ist das Leben unerbittlich und hart. Es schlägt genau dann zu, wenn wir am wenigsten damit rechnen."
Ich spürte kaum die Tränen, die bei seinen heiseren Worten über meine Wangen rannen. Erst als er mich in die Arme zog, wurde mir bewusst, dass ich weinte.
"Und in solchen Momenten," sagte er leise, "ist es gut einen Freund zur Seite zu haben."