Es stand wie ein stummes Tabu im Raum.
Keine intimen Fragen.
Nichts Persönliches. Nichts Familiäres. Nichts Privates.
So begegneten sie sich vor etwas mehr als einem Jahr in einer der vielen Internetgruppen für junge Autoren. Sie fanden sich über ihre Werke der Lyrik und Prosa.
Lyrik und Prosa. Uli musste grinsen. Vor einem Jahr hieß es noch Gedichte und Geschichten.
Da war Uli auch noch auf dem Findungstripp. Auf der Suche nach dem Wer, Was, Wie, Wann, Warum, Wo und Wohin.
Dann waren da die wunderschönen Gedichte von Flo. Uli war sofort von der Schreibweise, dem Stil, der Wortwahl hin und weg.
Das war dann auch der Zeitpunkt, an dem sich Flo74 und Uli86 als Internetfreunde fanden. War es Zufall? War es Bestimmung? Die Auswahl des Usernamens ...
zwei Dumme – ein Gedanken?
Beide hatten sich für ihren Spitznamen und ihr Geburtsjahr entschieden.
Gesucht und gefunden. Der Beginn einer intensiven Internetfreundschaft und Zusammenarbeit. Sie schrieben zusammen. Rundeten ihre Werke ab. Gaben ihnen den besonderen Schliff. Stritten und diskutierten so manche Stunde bis tief in die Nacht. Gemeinsam ritten sie auf einer Welle des Wortes. Es gab für sie nur die Schreiberei. Alles andere war in ihrer Freundschaft unwesentlich. Meinten sie.
Nun jedoch geriet dies alles ins Wanken. Warum? Wofür? Es machte die Sache doch nur komplizierter.
Es begann damit, dass die Gedichte von Flo melancholischer wurden. Da Uli den Grund nicht hinterfragen wollte, blieben die Statements zu den Gedichten recht verhalten. Anlass für Flo, sich seinerseits zu erklären.
Eines Abends erhielt Uli statt der stets freundschaftlichen Frotzeleien im Chat eine lange Mail. Von Freund … zu Freund.
Eine Lebensbeichte.
Flo war eigentlich Florian und 41 Jahre alt. Vor vier Jahren hatte er bei der Geburt seiner Tochter, dem zweiten Kind, seine Frau verloren. Die Gründe, den Schmerz und die
Wut darüber hatte er tief in seinem Herzen verschlossen.
Seine beiden Kinder, Robb mit seinen nunmehr 9 Jahren und seine kleine Lisa waren sein Ein und Alles. Sein Leben.
Die Kraft dafür schöpfte er aus der Schreiberei und den vielen Stunden leidenschaftlicher Dispute über Inhalt, Ausdruck und Stil mit Uli. Es gab ihm diesen intellektuellen Kick, den er seit dem Tod seiner Frau lange Zeit in seinem Leben vermisste. Flo zog aus der Freundschaft mit Uli so viel emotionale Energie, dass er der Meinung war, es sei an der Zeit, diese Freundschaft zu vertiefen. Florian wollte, dass Uli an seinem Privatleben teilhaben sollte. Er wollte seine Gefühle offenbaren, teilen, um
Rat fragen dürfen. Bisher waren seine Gefühle lediglich seinen Kindern vorbehalten gewesen … und natürlich seinen Gedichten, in die er sie hatte kunstvoll einfließen lassen.
Was bitte sollte Uli mit all diesen Informationen anfangen? War es denn wirklich notwendig, so viel Intimes über einen anderen zu wissen? Das bringt doch ihre Freundschaft auf einen qualitativ höheren Prüfstand. Was bedeutete das nun für ihrer beider Zusammenarbeit? Hatten sie noch eine gemeinsame Zukunft?
Bisher war alles so sicher. Man konnte sich in seinen Fantasien fallen lassen. Träumen.
Uli drehte sich der Kopf. Gedanken schwirrten kreuz und quer, hin und her.
Warum jetzt? Hatte Florian vielleicht erkannt, dass … ? Ist er eventuell auf die Idee gekommen, Uli könnte … ? Uli wagte die Gedanken nicht zu Ende zu denken. Das konnte schlicht alles nicht sein.
Schon immer hatte Uli vermutet, dass Flo ein Mann war und … das war auch gut so. Genau so, wie Flo … so sollte ein Mann sein, denken, fühlen … Wie oft hatte Uli wach gelegen und an Flo gedacht. Überlegt, wie mochte er wohl ausschauen? Sicherlich einer von diesen Anzugträgern, die jeden Morgen mit der Aktentasche ins Büro fuhren. Am Abend saß er dann in abgewetzten Jeans und Schlabberpulli an seinem Laptop und wirkte diese schönen Balladen, die so auf's Gemüt schlagen konnten. Zum Träumen einluden.
Dann wiederum wünschte Uli, Flo möge so wie der Typ in der S-Bahn sein. Ein Zwei-Meter-Mann in Bauarbeiterkluft, Basecape und Ohrring. Seine sanften braunen Augen würden Uli zuzwinkern. Seine vollen Lippen würden in einem verführerischen Lächeln Ulis Herz dahinschmelzen lassen.
Nun jedoch waren Uli auch diese Träume verwehrt. Nun, da Florian mehr über sich preisgegeben hatte.
Also verschloss Uli wieder einmal alle Träume und Gefühle tief im Inneren. Wie schrieb Flo doch gleich?
„ … Ich sehe tagtäglich auf dem Weg zur Arbeit dieses schelmische Lächeln in ihren Augen, den verschmitzten Zug um ihren so
sinnlichen Mund. Ihr Gesicht ist abends das Letzte und morgens das Erste, was mir in den Sinn kommt. Wenn ich mich nicht an den Schwur meiner lieben Frau und der Liebe zu meinen Kindern gebunden fühlte … Glaub mir, ich würde sie so gern … Du verstehst das bestimmt. So viele Jahre war ich allein und nun trifft es mich mit einem Schlag. Ich bin kein Draufgänger. Eher der Romantiker. Aber wie spricht man eine wildfremde Frau auf der Straße an, ohne plump und aufdringlich zu sein? Ich hab's nicht mehr drauf. Vielleicht kannst du mir ja raten, was ich tun kann, soll, darf?“
Oh ja, genau diese Sätze trafen wiederum Uli wie ein Schlag. Was sollte man da raten? Nach langem Überlegen setzte sich Uli an den
PC. Dann sollte Florian halt sein Glück versuchen.
Tage später stand Uli morgens in der Bahn und sah gedankenverloren aus dem Fenster. Es war schon seltsam. Florian hatte sich seit seiner Beichte nicht noch einmal gemeldet. Plötzlich ruckte der Zug und kurz bevor er zum Stehen kam, drückte ein Unbekannter Uli einen Zettel in die Hand. Uli sah dem davoneilenden Mann überrascht nach und erkannte den Typen in der Bauarbeiterkluft. Aufgeregt entfaltete Uli das Stück Papier.
„Hi, ich bin Florian und ich würde dich gern kennenlernen. Rufst du mich an?
Umseitig meine Nummer. Flo“
Uli begann zu zittern. Was war das denn jetzt?
Sofort drängte Uli zum Ausgang und nestelte in der Jackentasche nach dem Handy. Hastig tippte Uli die Nummer ein und ließ den Blick über den Strom von Passanten, die über den Bahnsteig eilten, schweifen. Irgendwo sollte er doch zu sehen sein, denn immerhin musste er die meisten an Größe überragen.
„Ja ... bitte?“
Uli schrak zusammen, als eine angenehm warme, sonore Stimme aus dem Handy ertönte. Sich streckend und nach allen Seiten umschauend meinte Uli: „Hallo Florian? … Hier ist … Uli ... Uli86.“
Stille.
Uli schien zu spüren, wie es in Flo arbeitete. Noch immer hielt Uli Ausschau nach Flo. Dann … Da stand er. Fragend sein Handy
anstarrend.
„Uli? Wie … Woher hast du meine Handynummer?“
Uli lächelte ob der Überraschung vor sich hin. „Dreh dich um … Florian. Hinter dir.“
Florian drehte sich langsam um und sah das schelmische Lächeln in den Augen von …
„Ulrike. Mein Name ist Ulrike … und ja … ich möchte dich auch sehr gern kennenlernen.“
© A.B.Schuetze 01/2016