EINLEITUNG
Wir alle hinterlassen Fußabdrücke.
Man muss nur genau hinsehen...
Text und Bild
(c) by avewien/Andreas V. Engel - 12/2015
traurige blumen?
Als ich vor dem Klassenzimmer stand, war ich etwas verwundert. Es war ziemlich still. Ungewöhnlich. Normalerweise ist gerade die 7B nicht zu überhören.
Als ich durch die offene Tür blicken konnte, sah ich keinen meiner Schüler. Ich dachte zunächst an einen der üblichen Streiche. Doch als ich in den Raum ging, konnte ich ganz hinten bei der Fensterbank alle Kids erblicken. Sie bemerkten mich nicht. Es war für mich nur ein leises Wimmern wahrzunehmen.
Sophie entdeckte mich als Erste, und kam schnurstracks auf mich zu. „Herr Professor, der Opa vom Michi ist gestern gestorben und
…“
An eine normale Unterrichtsstunde war nicht zu denken. Diese Nachricht hatte scheinbar alle in einer gewissen Weise schockiert. Für mich ein Erlebnis, dass ich nicht erwartet hatte, denn die Klassengemeinschaft ist eher als heterogen zu bezeichnen.
Als sich alle Kinder zu ihren Tischen bewegten und auch Michi mit einem „Geht schon wieder.“ Platz nahm, durchbrach Katrin die Stille: „Michi, weißt Du was mich traurig macht? Wenn meine Schwester wieder ins Spital muss. Dann fühle ich mich immer so allein.“ Alle blickten zu Katrin, doch keiner fragte nach.
Miriam wischte sich mit der linken Hand
übers Gesicht und erwiderte: „Ich war so verzweifelt, als mein Hund gestorben ist. Er war mein bester Freund.“ Max stand auf, ging zu Miriam und sagte: „Mir ist es genauso gegangen. Aber schau, ich hab immer noch ein Foto von ihm bei mir.“ Er kramte sein Federpennal hervor und zeigte Miriam das Bild. Miriam lächelte.
Plötzlich begannen alle Kinder nach und nach zu erzählen. Lukas wollte die Stimmung ein wenig aufhellen und meinte: „Ich könnte heulen, wenn es beim Bäcker keine Donuts mehr gibt.“ Er erntete von den meisten seiner Mitschüler ein kleines Lächeln. Es schien, als hätten alle diese Botschaft verstanden. Ich war zunehmend erstaunt, was an diesem Tag in der Klasse
passiert war.
Als die Glocke die Pause einläutete, griff ich nach meinen Unterlagen und ging – trotz der traurigen Nachricht - in gewisser Weise stolz Richtung Tür.
Doch bevor ich den Raum verlassen konnte, drückte mir Stefan – der als Einziger nichts gesagt hatte - einen zusammengefalteten Zettel in die Hand. Ich wollte noch fragen, warum er mir dieses Blatt gab, doch er war schon Richtung Schulhof unterwegs. Auf dem Blatt stand „Bitte erst zu Hause aufmachen.“ Ich war zwar neugierig, doch ich wartete bis der Unterrichtstag zu Ende war.
Der Abend war angenehm warm. Ich nahm ein Glas Wein und setzte mich auf meinen
kleinen Balkon. Die halbe Stadt schien unterwegs zu sein – der Straßenlärm war nahezu unerträglich. Als ich die Zettel auseinander gefaltet hatte, begann ich in aller Ruhe zu lesen:
Ich finde das total unfair. Ich hab Michis Opa gekannt. Wir waren sehr oft bei ihm. Und jetzt können wir nicht mehr bei ihm zu Mittag essen oder mit ihm spielen. Er hat uns so viele tolle Kartenspiele beigebracht. Das soll jetzt alles auf einmal nicht mehr so sein? Michi hat mir gestern noch eine SMS geschrieben, dass sein Großvater gestorben ist.
Aber wissen Sie, Herr Professor, ich habe ein wenig nachgedacht, um Michi ein wenig
aufzumuntern – obwohl es nichts genützt hat – aber vielleicht hilft es ja irgendwann wem. Und ich habe mir gedacht, ich gebe Ihnen den Zettel, weil Sie können sicher damit was anfangen.
Der Tod ist echt eine Katastrophe. Aber ich bin so froh, dass ich Michis Opa kennen gelernt habe. Wir werden zwar nie wieder mit ihm zusammen sitzen, aber er hat mir Sachen beigebracht, die ich sonst nie gelernt hätte. Und er hat immer gemeint, dass es wichtig ist, sowas weiterzugeben.
Irgendwann ist das Leben aus. Ist nun einmal so. Aber irgendwas bleibt immer von einem übrig. Ich denke mir, vielleicht ist es dann gar nicht notwendig, dass man so extrem traurig ist, wenn es vorbei ist.
Vielleicht klingt es eigenartig, aber ich hatte dann irgendwie komische Gedanken. Vielleicht verstehen Sie es ja, was ich hier aufgeschrieben habe:
Ist die Blume traurig, wenn die Blüten abfallen?
Weint der Schmetterling seiner Zeit als Raupe nach?
Macht es dem Schnee was aus, wenn er schmilzt?
Ärgert sich der Stein, wenn er abgerieben wird?
Das klingt auch für mich eigenartig, aber irgendwie sind wir scheinbar alle nicht für die Ewigkeit bestimmt. Und trotzdem kann
manches ewig bleiben. Die Erinnerung.
Ich verbrachte noch einige Stunden auf dem Balkon. Mittlerweile war es auf den Straßen ruhiger geworden. Ich lehnte mich in meinen Sessel, starrte in den Nachthimmel und merkte wie verschiedenste Gedanken durch meinen Kopf schossen. Nach und nach verlor auch für mich die Vergänglichkeit zunehmend an Bedeutung.