Kapitel 2
Zarte Bande
Kapitel 2
Zarte Bande
Die Sonne sank langsam am Horizont und tauchte die abendliche Stadt in ein feuriges Farbenmeer. Ein leichter Wind frischte vom Wasser her auf, und ließ die milde Herbstluft empfindlich kühl erscheinen.
Ich hob den Blick, von meinem kaum berührten Teller, auf dem der herrlich angerichtete Wallnusssalat allmählich zu welken begann, und betrachtete schüchtern mein Gegenüber. Der Mann,
welcher sich als mein Retter in der Not entpuppte, hatte sich mir als Alexander Morgenroth vorgestellt.
"Schmeckt es nicht?" fragte er sanft und deutete mit seiner Gabel auf meinen Salat.
"Nein...doch, doch..." Ich spürte einen unangenehme Hitze, die mir den Rücken hinauf kroch. Wie konnte ich mich selbst nur in eine solch peinliche Situation bringen und mit einem mir völlig fremden Menschen ausgehen? Dazu noch an einem Tag, da mich auf Grund des aktuellen Schicksals, eine Schockstarre ereilte, der ich nicht entkommen konnte.
Ein schiefes Lächeln huschte bei meiner Stammelei über sein Gesicht und ließ
mich erleichtert aufseufzen.
"Das Essen ist vorzüglich, daran liegt es nicht. Ich habe einfach keinen Appetit."
Entschuldigend hob ich die Schultern und griff nach dem Wasserglas.
Über den Rand des Glases hinweg beobachtete ich, wie er seine Gabel zur Seite legte, die Hände unter dem Kinn faltete und mich nachdenklich betrachtete.
Oh Gott, was kommt jetzt? Das Beste würde sein, vorzugeben sich frisch machen zu müssen und dann, statt die Damentoilette, so schnell wie möglich das Weite zu suchen.
Ich war schon im Begriff, mir die Worte zurecht zu legen, als er mir zuvor kam.
"Was immer sie erlebt haben, Natalia, es scheint sie sehr mitzunehmen.
Nur allzu verständlich, dass ihnen dies auf den Magen schlägt."
Mir fiel auf, das die ruhige Flamme der Kerze, welche die Mitte des Tisches zierte, goldene Lichtreflexe in das tiefe Blau seiner Augen zeichnete.
Vielleicht lag es genau daran, dass plötzlich die Worte nur so aus mir heraus sprudelten.
"Meine Großmutter ist gestorben. Heute...sie war...sie hatte eigentlich nur eine Hüft-OP. Es ging ihr gut. Letzte Woche haben wir noch Pläne für Weihnachten geschmiedet und jetzt ist...ist sie tot..." Ein Schluchzen stieg in
meiner Kehle auf, so das die Worte darin fast untergingen. So sehr ich dagegen ankämpfte, konnte ich den Tränenfluss, der sich in diesem Moment Bahn brach, doch nicht stoppen. Ich senkte den Kopf, spürte die Tränen, die meine Wangen benetzten und schämte mich ihrer seltsamer Weise nicht. Die Gespräche der Menschen, rund um uns herum, schienen leiser zu werden. Wurden übertönt von dem Kummer, der lauthals in mir zu Schreien schien Â
Eine kleine Ewigkeit verging, starr in der Trauer gefangen, bevor ich spürte wie er zart meine Finger berührte, um meine Aufmerksamkeit zu erlangen.
Mit zitterndem Atem hob ich den Kopf
und wischte vorsichtig die Spuren meiner Emotionen von den Wangen, bevor ich es wagte ihm in die Augen zu sehen.
"Es ist okay," sagte er leise, noch immer meine Hand haltend. Und es war unbeschreiblich, wieviel Trost und zugleich Kraft eine solch bedeutungslose, leichte Berührung vermitteln konnte.
"Tränen helfen den Schmerz zu lindern. Einen Menschen zu verlieren, den wir sehr geliebt haben, ist wohl das grausamste Schicksal, das uns ereilen kann." In seiner Stimme schwang eine Spur Melancholie, so dass ich mich unwillkürlich fragte, ob er aus Erfahrung sprach.
"Ihr standet euch sehr nah? Deine Großmutter und du?"
Völlig ungezwungen hatte er zum du gewechselt, was in Anbetracht der intimen Situation zwischen uns auch nicht weiter verwunderlich war. Ich war gerade dabei mich seelisch zu entblößen.
Ich schluckte schwer und brachte nur mit Mühe ein Nicken zustande.
"Ja...ich...sie hat mich großgezogen. Meine Mutter starb bei meiner Geburt. Lina war...sie war alles für mich. Vater, Mutter, Großmutter in einer Figur. Sie war nicht nur das...sie war auch meine beste Freundin, meine Seelenverwandte."
Ein schmerzliches Lächeln glitt über meine Lippen, bei all den Bildern die auf
mich einprasselten.
Alexander sah mich aus ernsten Augen an. In seinem Blick lag tiefes Mitgefühl und eine Art Wissen, welches mir signalisierte, dies war für kein unbekanntes Terrain.
"Es gab also nur euch zwei. Keine anderen Angehörigen? Tanten, Onkel?"
Ich schüttelte bedauernd den Kopf.
"Nein. Niemand sonst. Und wir waren uns auch stets genug. Ich habe nie jemanden vermisst..."Meine Stimme brach und nur mit Mühe gelang es mir, die Tränen zurückzudrängen.
Er nickte verständnisvoll und starrte gedankenverloren auf meine Hand, die noch immer von der seinen bedeckt
wurde. Mir fiel auf, das auch sein Teller fast gänzlich unberührt war. Der Anblick meines Leides schien ihm ebenfalls den Appetit verdorben zu haben.Â
Wie konnte es sein, dass zwei Menschen, die sich fremd waren, auf seltsame Art doch miteinander verbunden schienen?
"Und Freunde oder Nachbarn? Gibt es da niemanden, der dir Nahe steht. Der dir in dieser schweren Zeit beisteht?"
Ich presste die Lippen aufeinander und schüttelte wieder den Kopf.
"Ich habe die letzten Jahre außerhalb von Hamburg gelebt. Nach und nach haben sich die, ohnehin sehr geringen Kontakte, verloren. Und Linas Nachbarn...," vage hob ich die Achseln.
"Nun, ein Teil der gleichaltrigen ist längst verstorben, die Häuser an junge Familien verkauft. Die wenigen, die noch ihrer Generation entstammen, sind mittlerweile selbst hilfebedürftig."
Ein Kellner trat an unseren Tisch und deutete mit leichter Bestürzung auf die fast unberührten Gerichte.
"Oh je, hat es ihnen nicht geschmeckt? Soll ich ihnen etwas anderes bringen. Ich bin sicher der Koch..."
Alexander hob die Hand und unterbrach so den Redeschwall des Obers.
"Alles Bestens, machen sie sich keine Sorgen." Er zwinkerte mir zu, bevor er, dem nervösen Mann zugewandt, fortfuhr.
"Unser Hunger schien doch nicht so groß
zu sein, wie wir angenommen hatten. Dennoch, ein großes Lob an die Küche. Das Steak war ausgezeichnet und auf den Punkt gebraten."
Die Augen des Kellners begannen zu leuchten und ein Lächeln brachte sein Gesicht zum strahlen.
"Na, da fällt mir ja ein Stein vom Herzen. Darf es noch etwas sein für sie? Vielleicht ein Dessert? Wir haben heute Weiße Schokolade auf Eissorbet auf der Tageskarte..."
Alexander sah mich fragend an. Kaum merklich schüttelte ich den Kopf.
"Nein Danke. Ich wäre ihnen sehr verbunden, wenn sie die Rechnung fertig machen könnten."
"Sehr gerne, der Herr. Nur einen Moment bitte, ja." Und im nächsten Augenblick war er zwischen den dichtstehenden Tischen verschwunden.
"Ich mag mir gar nicht ausmalen, was wir hier für einen Eindruck hinterlassen haben," merkte ich leise an.Â
Nachdenklich zog er einen Augenbraue hoch und hob schließlich die Schultern.
"Völlig gleichgültig. Uns kennt hier schließlich niemand. Ich gehe nicht davon aus, dass dies dein Stammlokal ist, wenn du schon seit Jahren anderswo lebst. Und ich selbst bin auch kein Hamburger. Also , warum sollte es uns kümmern, was die anderen denken."
Fasziniert lauschte ich seinen Worten,
als mir plötzlich klar wurde, dass mir die Meinung im Außen immer sehr wichtig war.
Der Kellner kam mit einem Lederetui zurück, in dem dezent die Rechnung verborgen lag. Als ich Anstalten machte, mein Menü selbst zu bezahlen, winkte Alexander ab und schob einen Schein zwischen die Seiten. Dann erhob er sich elegant, sah lächelnd auf mich herab und reichte mir die Hand.
"Wo genau musst du hin?" Ich ergriff seine Hand und stand auf. Ein mulmiges Gefühl beschlich mich bei seiner Frage.
Vielleicht waren seine Absichten doch nicht ganz so arglos, wie er vorgab. Wo gab es schon Männer die völlig
uneigennützig handelten, sozusagen aus reiner Nächstenliebe? Â
Er schien meine Gedanken zu erraten, vielleicht spiegelten sie sich auch in meinen Zügen, denn mit einem schelmischen Lächeln flüsterte er mir zu:
"Ich habe nicht die Absicht dich zu verführen. Da ich noch ein paar Tage in der Stadt bin, würde ich dir gerne dabei behilflich sein, die wichtigsten Dinge für die Beisetzung deiner Großmutter zu organisieren. Wenn du mir sagst, du brauchst mich nicht, ist das auch völlig okay..."
"Nein." Meine Antwort kam schnell. Zu schnell, wie ich beschämt feststellte. Doch ich war unendlich dankbar für
dieses Angebot. Wenngleich dieser Mann mir völlig fremd war, so hatte es doch den Anschein, dass wir immerhin einen Draht zueinander hatten.
"Ich nehme dein großzügiges Angebot sehr gerne an. Aber nur, wenn ich deine Zeit nicht über gebühr beanspruche."
"Schon gut, ich würde mich nicht anbieten, wenn ich es nicht so meinte. Also, wo musst du nun hin?" Seine blauen Augen ruhten auf meinen Zügen.
"Nach Altona." Beklommenheit klang in meiner Stimme an. Noch immer konnte ich nicht einschätzen, warum genau er das fragte.
"Gut." Er legte mir sanft eine Hand in den Rücken und schob mich Richtung
Ausgang.
"Dann werde ich dir jetzt ein Taxi rufen." Er konnte sein Lächeln nicht verbergen, als ich vernehmlich erleichtert ausatmete.