Bücherflohmarkt
»Ein Raum ohne Bücher ist ein Körper ohne Seele«, bemerkte Cicero schon vor über zweitausend Jahren. In eine Buchhandlung oder in eine Bibliothek einzutreten, erweckt in mir das Gefühl, mich mit einer Fülle von Seelen zu umgeben. Aus Regalen starren sie mich zu Tausenden an, wispern, raunen, flehen mich an. Argwöhnisch verfolgen sie meinen Lauf durch die Reihen. Wohin geht er? Wen wählt er? Schreien. Hier, hier bin ich! Nimm doch mich! Ehrfurchtsvoll nehme ich das bedruckte Papier in die Hand, lese einige Zeilen. Schauer laufen über meinen Rücken. Mein Riecher schnüffelt den narkotisierenden Geruch von Druckerschwärze. Buchstaben tanzen ausgelassen Kasatschok, üben eine magische Wirkung auf mich aus, versetzen mich in den Zustand einer entrückten Welt, lassen mich eintauchen in ferne Epochen und Landschaften.
Alles um mich herum entschwindet, verflüchtigt sich in einer verschleiernden Nebelbank. Kapitän Ahab hält Ausschau nach Moby Dick. Dschingis Khan reitet mit seinen wilden Horden gen Osten. Hedin durchquert Tibet, Amundsen die eisigen Wüsten, Hemingway die grünen Hügel Afrikas. Und ich bin dabei! Erfahre, was sie erfahren haben, sehe, was sie gesehen haben, fühle, was sie gefühlt haben. Für einen Augenblick durchquere ich auf meiner Reise die Ozeane menschlicher Leidenschaften. Ist das nicht großartig? Und wenn man mich fragt, warum ich reise, antworte ich: Ich weiß wohl, wovor ich fliehe, aber nicht, wonach ich suche. Lesen war schon immer ein Abenteuer für mich. In meiner Kindheit sogar ein Doppeltes. Mit der Taschenlampe heimlich unter der Bettdecke und mit der Angst erwischt zu werden durchs wilde Kurdistan. Doch ich bin niemals allein, denn all die Helden begleiten mich auf meinen
Abenteuern.
Als ich noch klein war, hatte ich ein Bücherbrett für meine Abenteuergeschichten von Jules Verne und Jack London, und dieses Brett wuchs mit mir, wurde zum Regal, dann holte es mich ein und wuchs über mich hinaus. So sparsam ich auch war, so wenig Geld ich auch zur Verfügung hatte, ein gutes Buch zu kaufen, bereute ich nie. Heute freue ich mich manchmal, ein Buch einfach zu besitzen, auch wenn ich keine Zeit habe, es zu lesen. Bücher breiten sich in meiner Wohnung aus wie wuchernder Efeu.
Meine Frau versucht gegen meine Sucht anzukämpfen, aber sie unterliegt meist. Selbst in schlechtesten Zeiten, erwarb ich eher ein Buch als ein Brot. Die Bücher stapeln sich in Regalen, breiten sich aus auf Tischen und Betten, häufen sich auf dem Fußboden. Ich brauche nur einmal aus dem Haus zu gehen, da haben die Bücher schon wieder eine Position
erobert. Einmal wird meine Frau nach Hause kommen, denn werden die Bücher auch die Speisekammer okkupiert haben oder langsam in den Küchenschrank hineinkriechen. Ich stelle mir gern vor, wie ich allmählich von meinen Büchern
begraben werde. In tausend Jahren wird man mich vielleicht platt gedrückt, aber wohl mumifiziert unter einem Berg von Büchern finden, die darauf warteten, von mir gelesen zu werden.
An diesem Samstag erweckte die strahlende Sonne eine heitere Stimmung in mir. Kaum hatte meine Frau das Haus verlassen, brach ich auf zu einem Bücherflohmarkt. Gelangweilt saßen müde Trödler in der Sonne, vor ihnen kistenweise Bücher aller Art: zerfledderte Taschenbücher, zerschlissene Kitschromane, abgegriffene Kinderbücher, verstaubte Lexika und antiquarische Kostbarkeiten. Gierig griffen meine Hände in die Kisten hinein, mit
mikroskopischen Blicken suchten meine Augen nach bekannten Dichtern, Titeln und Themen auf den Buchrücken. Vorsichtig und aufmerksam durchstöberte ich wie ein Schatzsucher die Stapel. Da! Heinrich Heines »Pariser Tagebuch«. Lüsternheit packte mich. Fieberhaft durchkämmte ich die Reihen. Oh – Hedins »Eroberungszüge in Tibet«. Vorsichtiges Umschauen, schnelles Zugreifen. Ungeduldig, voller Spannung tauchte ich ein in einen neuen Stapel. Staubig modriger Kellergeruch schlug mir entgegen. Dunkle, graue Antiquitäten mit Goldschnitt. Pah – Lawrence von Arabien »Die sieben Säulen der Weisheit«. Hastiges Zuschnappen. Ein Besitz, der mich glücklich macht. Wild süchtiges Weitersuchen. Ein indisches Märchen, hundert Jahre alt! Der Stapel wuchs. Die Tagebücher der Anaïs Nin, ein eindrucksvolles Bekenntnis, das seinen Platz neben den Enthüllungen des heiligen Augustinus, Petronius, Rousseaus und
Proust finden würde. Und dann der Höhepunkt: Jack Kerouacs »Engel, Kif und neue Länder«. Dieser Herold einer Jugend, der sich inmitten der schlechtesten aller Welten zum glückseligen Leben bekannte, nahm mich schon früher mit auf seiner Suche nach einem intensiven, rauscherfüllten Dasein, damals quer durch Amerika von Ost nach West und Nord nach Süd, oder aber auf seinen einsamen Zen-Berg. Und jedes Mal war ich begeistert, wollte so leben wie er, rasend wie Bebop-Jazz, tiefsinnig philosophisch, intensiv fühlend, ruhig buddhistisch. Ein solch aufregendes Leben schwebte mir vor: MUSIK-RAUSCH-LYRIK-GEDANKEN-ORGASMUS-BUDDHA-GOTT.
(c) Rajymbek 2009 aus "Das Geschenk des Schamamen"
http://www.amazon.de/Das-Geschenk-Schamanen-Rajymbek/dp/1447674898