Er ist tot. Neben mir ist er seinen Leiden erlegen. Als sie ihn zurück brachten, wälzte er sich unter Schmerzen krampfartig hin und her. Auf mein Fiepen reagierte er nicht mehr. Sein schönes weißes, glänzentes Fell, wirkte stumpf, irgendwie ergraut. In seinen Augen verschwand zuerst das Feuer, mit dem er mich immer seinen Bann zog. Dann sah ich wie das Leben aus seinen Innerem wich. Der Tod zog ihn in eine Welt, weit fort von mir. Der Weißkittel stand daneben, beobachtete mit seinen kleinen, kalten Schweinchenaugen jede Sekunde seines Dahinscheidens und machte sich Notizen. Menschen sind einfach nur das Letzte.
Sein Todeskampf verlief nach den gewohnten
Mustern, schreibt der Laborassistent später in seinen Bericht. Nachdem er die Injektionsnadeln entsorgt, legt er sich das Sezierbesteck bereit. Die nach außen sichtbaren Folgen des Gifts protokolliert er gewissenhaft, jetzt kümmert er sich um die inneren Schäden. Die letzten Nächte fand er schwer in den Schlaf. Endlich am Ziel angekommen, plagen ihn Albträume. Zum Glück neigt sich seine Praktikumszeit im Labor für Tierversuche dem Ende, denn dieses sinnlose Töten von Tieren, zum Zweck der Erforschung von Giften, bringt ihn an seinen Grenzen. Er nimmt einen kräftigen Schluck aus seiner Kaffeetasse, dann geht er zum Käfig, öffnet ihn um die vor kurzem verstorbene Maus zu entnehmen. Übermüdet
widmet er sich dem Sezieren.
Oh nein er kommt zurück. Jetzt wird er mich holen. Mein Liebster, jetzt ist es soweit in einigen Minuten werden wir wieder vereint sein. Ich schließe besser die Augen, dann ist es schneller vorbei.
Warum fühle ich keine Berührung? Warum trägt mich niemand auf diesen kalten, glatten, nach Tod riechenden Tisch? Ich versuche vorsichtig zu schauen. Nur ein bisschen die Augen öffnen, einen Schlitz nur. Du bist weg. Er hat Dich geholt, nicht mich. Irgendwie fühle ich Erleichterung in mir aufsteigen. Verzeih mein Liebster, ich möchte Leben. Aber was sehe ich? Dieser Trottel hat die Tür des Käfigs offen gelassen, das ist
meine Chance. Jetzt oder nie! Ich flitze los, klettere am Käfig bis zur geöffneten Tür. Er sieht mich nicht. Scheint mit irgendetwas schwer beschäftigt. Zum Sprung ansetzen. Geschafft. Am Boden angekommen renne ich so schnell mich meine kleinen Füße tragen können zur Tür, raus in den Flur. Meine Atmung geht schnell, viel zu schnell. Mein kleines Herz schlägt mir bis zum Hals. Genauso wild schlug es als ich Dich zum ersten mal sah. Ich habe keine Zeit mich in Erinnerungen zu verlieren. Meine Flucht ist hier nicht zu Ende. Weiter, aber wohin. Verlass Dich auf Deine Sinne, hast Du zu mir gesagt, als wir über unsere gemeinsame Flucht sprachen. Riechen, Schmecken, Tasten, Hören, Sehen. Außer einem
ellenlangen Flur kann ich nichts sehen, das mir weiter hilft. Hören kann ich auch nichts, das mir den Weg hinaus zeigt. Riechen, ja ich rieche etwas. Es schnuppert nach Freiheit, Sonne, Gras. Dem Geruch folgend , komme ich zu einer Tür. Irgendwie muss ich unbemerkt da durch, dann bin ich frei. Uff, geschafft. Hier draußen ist alles so groß, so hell, so warm. Fremde Geräusche, Gerüche stürzen auf mich ein. Ich muss hier weg. Da drüben ist ein Busch. Wie Sausewind verschwinde ich unter seinem schützendem Blätterdach. Mein Liebster, Du bist tot. Eine tiefe Traurigkeit umfasst mein Herz. Das Adrenalin in meinem Blut verpufft. Plötzlich erfasst mich eine unglaubliche Müdigkeit. Dankbar überlasse ich mich einem
traumlosen Schlaf.
„Mama schau mal hier sitzt eine Maus“, ruft das kleine Mädchen unbeschwert. Die Mutter schreit panisch, „ Nicht anfassen, Du weißt nicht ob sie vielleicht krank ist.“ Schnellen Schrittes nähert sie sich dem Kind zu dessen Füßen eine weiße Maus sitzt. Ängstlich kauert sie sich an die Wand des Hauses. Ihre kleinen roten Äuglein blickten stumm zu ihnen herauf. „ Ist die nicht süß?“, schwärmt die Kleine. „ Können wir die nicht mitnehmen?“ Besonders glücklich über diese Frage sieht die Mutter des kleinen Mädchens nicht aus. Aber hier sitzen lassen kann sie die Maus auch nicht. Es dämmert schon. Die Katzen in der Nachbarschaft liegen in
Lauerstellung. Sollte sie diese Nacht zufällig überleben, ist die Wahrscheinlichkeit das die winzige Maus verhungert ziemlich groß. Erfrieren ist das nächste qualvolle Ergebnis der mütterlichen Überlegungen. Sie spürt wie der einsetzende Frost ihre Beine hoch schleicht. Anfangs zögerlich, doch dann immer entschlossener, legt sie ihren Schal ab, beugt sich zu der Maus herunter und hebt sie in den Schal gewickelt vorsichtig auf. Zu ihrer Tochter spricht sie, „ Hier um die Ecke ist gleich ein Tierarzt, dort bringen wir die Maus gleich hin, vielleicht kann er sie dem Tierheim übergeben.“ Mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen, starrt die Kleine ihre Mutter vorwurfsvoll an. Schmollend fügt sie sich der Entscheidung. Schlurfend trottet
sie an der Seite ihrer Mutter mit der kleinen weißen Maus zum Tierarzt.
Ein unbändiger Hunger weckt mich. Im ersten Moment erschreckt mich die ungewohnte Umgebung. Nach und nach fällt mir alles wieder ein. Dein Tod, meine Flucht. Ich weiß nicht wie es weitergeht. Vielleicht suche ich mir erst mal was zum Fressen. Verdammt kalt ist es geworden. Meine Füße spüre ich kaum noch. Das Laufen fällt mir schwer, wieder diese Müdigkeit, dieser Hunger, diese Kälte. Wäre ich nur im Labor geblieben. Meine Tage wären gezählt, mein Ende qualvoll. Jetzt bin ich frei und meine Zukunft ungewiss. Mein Liebster, mir fehlt Deine Weisheit, Dein Mut, Deine Kraft. Sie haben mich gefunden. Diese
Menschen sind wieder da. Nun stehen sie vor mir und starren mich an. Ich kann ihre Stimmen vernehmen. Ihre seltsame Sprache fremd, unverständlich. Doch ich muss sie nicht verstehen um zu wissen was jetzt folgt. Sie werden mich forttragen, in einen Käfig sperren und dann... Besser ich denke nicht an die Folgen. Wenigstens wird es warm sein. Meinen Hunger und meinen Durst kann ich dann auch endlich stillen. Aber warum wickeln die mich in ein Tuch?
Hab ich es doch gewusst. Schade, mein Tod ereilt mich bevor ich etwas essen konnte. Wenn es so seien soll, dann füge ich mich dem Schicksal. Wenigstens ist dann alles vorbei, keine Schmerzen, kein Hunger, keine
Sehnsucht nach Dir. Bald bin ich bei Dir mein Herz. Keinen Piekser, kein Schmerz? Komisch, außer anstarren passiert nichts. Jetzt stecken die mich auch noch in eine Kiste. Es wird dunkel, nachdem sie den Deckel verschlossen. Wenigsten sind ein paar Löcher in dem Karton, so geht mir wenigstens die Luft nicht aus.
Das kleine Mädchen trägt vorsichtig den Karton, mit der darin befindlichen Maus, nach Hause. Vorsichtig stellt sie den Karton auf dem Küchentisch ab. Der Vater blickt verwundert zu seiner Frau. Auf seine Frage, wo denn die Einkäufe abgeblieben sind, folgt eine ausführliche Erzählung der Ereignisse. Die Ausführungen der beiden Damen des
Hauses, enden mit der Feststellung, das der Tierarzt ihnen mitteilte, das er die Maus nicht vor morgen früh um 11.00 Uhr aufnehmen könne. Beim Blick in die Gesichter seiner beiden Mädchen, wusste er, das sie längst eine Entscheidung über die Zukunft der Maus, getroffen haben. So fuhren sie zum nächst gelegenem Baumarkt und kaufen alles, was so eine kleine Maus benötigt, um glücklich zu sein.
Nach gefühlten endlosen Stunden, öffnet sich der Deckel des Kartons. Niedergeschlagen harre ich der Dinge die da kommen. Das warten auf den Tod, erscheint mir schlimmer, als der Tod selbst. Wenn er mich ereilt, gebe ich mich vertrauensvoll in
seine Arme. Meine Angst vor dem Tod, ist durch die letzten Ereignisse verschwunden. Eine menschliche Hand ergreift mich. Sie befreit mich aus der Kiste und trägt mich zu einem Käfig. Dabei redet der Mensch auf mich ein. Seine Stimmlage beruhigt mich ungemein. Neugierig betrachte ich mein neues Heim. Irgendetwas ist anders als im Labor. Wo ist der Tisch der nach Angst und Tod riecht? Wo sind die Weißkittelmenschen? Hier sieht alles so anders aus. Zuerst stille ich meinen Hunger und meinen Durst. Danach widme ich mich der Umgebung. Mein Liebster, wie sehr wünschte ich das Du all dies sehen könntest. Ich bin im Paradies angekommen. Ein Gefühl von Sicherheit erfasst mich. Hier gibt es keine
Gefahren für mich, das spüre ich. Leider fehlte mir vor Deinem Tod die Zeit, Dir mein Geheimnis anzuvertrauen. Dein Tod kam so plötzlich. Ich bin schwanger, mein Herz. Hier an diesem Ort, mit diesen Menschen, werde ich Dein größtes Geschenk, auf die Welt bringen. An diesem Ort finden wir unser Glück.