„Hallo,
setzt euch, nimmt eine Decke zur Hand, schaltet das warme Licht eurer Tischlampe an und lauschet einer kurzen Geschichte, die ich euch mitteilen will. Es handelt weder von Hasen, noch Igeln, noch soll es euch zu heldenhaften Taten bringen. Setzt euch und lauschet einfach nur, um des Zuhörens willen, damit ich mich nicht einsam fühle.
Es waren einmal zwei Geschwister. Obwohl sie miteinander verwandt waren und man oft sagte, dass Geschwister sich ähnlich seien, waren diese beide
grundverschieden. Sie lebten in einem kleinen Dorf, gemeinsam mit vielen anderen Kindern. Alle hatten sie Eltern, genau wie die beiden es taten.
Das ältere Geschwisterchen war nie wirklich fröhlich oder zufrieden gewesen. Es hatte immer irgendwelche Gedanken, es war voller Skepsis und voller Missmut. Es wollte niemandem glauben und schon gar nicht mit der Idee zusammen gehen, dass sich etwas zu guten wenden würde. Manchmal wünschte es sich es sollte sich nichts verändern. Doch dem Zahn der Zeit hielt es selbst nicht stand und auch kein anderes Wesen, kein anderes Ding. Die Welt um das ältere Geschwisterchen
veränderte sich von Sekunde zu Sekunde. Um dieser Situation zu entkommen verschloss es gern die Augen, saß in seinem Zimmer oder allein am Fluss. Es dachte viel nach, über sich und viel zu viel über die gegebenen Situationen.
Das jüngere Geschwisterchen war aufgeweckt. Es rannte viel und tollte umher. Wenn es sich einmal weh tat, dann stand es sofort wieder auf, nicht verletzt und nicht wütend darauf, dass nun sein Knie weh tat. Es nahm jede Veränderung der Welt hin, als müsste es so gewesen sein, als hätte es gewusst was passieren würde. Nie schien es den Gedanken zu verlieren, dass aus all dem etwas Gutes entstehen könnte. Auch
seinem älteren Geschwisterchen, das bitter und mürrisch in der Ecke saß, half es und sagte oft, dass alles gut werden würde.
Und auch wenn sie oft stritten und selten einer Meinung waren, so konnte das eine nicht ohne das andere leben. Sie wollten sich sehen, mussten sich sehen und die Nähe des anderen wissen. Sie mussten sich vergewissern, dass es dem anderen gut ging. Und auch wenn das Blut so dick war, dass man meinen könne nichts in der Welt könnte die beiden trennen, so kam es zu einer bitteren Trennung der beiden.
Nun, eines Tages kam es dazu, dass das jüngere Geschwisterchen entführt wurde.
Es wurde einfach aus dem Dorfe geraubt und man solle es nie wieder sehen. Doch es rief und quälte sich, versuchte zu entkommen. Es war bereit alles zu tun, jedoch nicht sein eigenes Wohl zu schädigen. So saß es eines Abends in seinem Käfig und blickte hinauf zum Mond. Die Dunkelheit schien ihm nichts anzutun, weder ängstigte es ihn, noch erschien es ihm bedrohlich. Es war ganz entspannt und ließ den Blick nicht vom Monde.
Auf der anderen Seite war das ältere Geschwisterchen den ganzen Tag schon am Weinen und Schreien. Es konnte nicht sein, dass sein anderer Seelenteil verschwunden war. Man trennte sie doch
nicht so einfach, schrie es und forderte laut stark nach Hilfe, die es doch nicht annahm.
Doch schon bald brach es zusammen, wie es oft der Fall war. Es sah keine Lösung, wusste nicht was es tun sollte.
Dann eines Abends stürzte es geleitet von einem unsichtbaren Faden in den Wald. Es wusste nicht wohin und konnte auch nicht sagen wieso es nun so rannte, obwohl sein Geschwisterchen doch verloren schien, zerrte ein ungutes Gefühl wie ein Rasiermesser an seinem Hals.
Nach langem Rennen gelangte es in ein Lager von bösen Leuten, die schwer atmend in einem tiefen Schlaf versunken
waren. Aus einem Käfig in der Nähe hörte das ältere Geschwisterchen eine ihm bekannte Stimme, die ihm sagte: „Ich habe gehofft, dass du kommst. So verzweifelt habe ich dich noch nie gesehen…“ und dann schmunzelte es. “Danke dir. Ich konnte nicht ohne dich“, antwortete das andere.
Und so gingen Verzweiflung und Hoffnung Hand in Hand wieder nach Hause.“