Beschreibung
für einen Freund
Pilze im Winter
Der Ritchie.
Klein, unrasiert und mit einem immer speckigen, dreckigen, zu großen Anzug bekleidet, so kam er immer daher.
Im Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter immer unterwegs, wie Richard Kimble, immer auf der Flucht. Immer irgendwie in Bewegung. Ohne Ruhe.
Sonne, Regen, Schnee, Wind. Wetter spielte für ihn keine Rolle. Er war immer unterwegs.
Man sah ihn mal, mit seinen kleinen Schritten, durch die Stadt tippeln. Dann stolperte einem wieder bei einem Waldspaziergang über dem Weg.
Früh, Mittag, Abends, Nachts.
Zeit war für ihn nur ein Wort.
Kopfschüttelnd, vor sich hin schimpfend, immer auf Suche nach leeren Flaschen, für die er Pfand bekommen konnte, so durchstreifte er die Stadt.
Man sah ihn vor Schulen, in den Papierkörben, nach weggeworfenen Wustbroten stöbern, die später seinen Magen füllen sollten.
Ja, so haben ihn wohl viele in Erinnerung.
Irgendwann einmal soll er Buchhalter gewesen sein, aber dann, der Suff. Die Frau, die Familie fort. So ist er halt runtergekommen. Selber Schuld.
Der ist doch immer besoffen. Der hat kein Wasser daheim. Ekelhaft dieser Anblick. Schämt er sich nicht. So einer gehört doch weg.
Eigentlich wollte er selbst nur in Ruhe gelassen werden.
Dann ist er, vielleicht weil er wieder einmal zu viel getrunken hatte, auf der schmalen, steilen Treppe hinauf zu seiner kleinen Wohnung ausgerutscht und so einsam, jämmerlich gestorben.
Auf seiner Beerdigung stellte der Pfarrer, in seiner uns warnenden Predigt fest, dass Ritchie ein armer Mensch mit einem freudlosen Leben war.
Wie sich der Pfarrer doch irrte.
Auch wenn er wirklich schon bessere Tage gesehen hatte, war der Richie für so manchen und mich ein Freund.
Er war ein echtes Phänomen.
Er kannte die besten Pilzecken im Wald und fand selbst im Winter noch essbare unterm Schnee. Doch was das Wunderbarste an ihm war, er wusste Geschichten zu erzählen. Wahre Geschichten aus unserer Heimatstadt. Geschichten über Häuser und Leute, die längst Vergangenheit waren. Er schien wirklich alles und jeden zu kennen und gekannt zu haben. In seiner stillen, unauffälligen Art verstand er es einen in den Bann zu ziehen und die Zeit flog dahin, wenn er zu erzählen begann.
Wenn man ihn in einer Kneipe traf, freute er sich ehrlich über ein Bier, das man ihm bezahlte und dankte mit seinen Erzählungen. Ich glaube aber, dass er sich noch mehr freute, wenn er einem, was halt nicht oft vorkam, auch ein Bier spendieren konnte. Der Schalk saß ihn in den Augen, wenn man sich mit: „oh, vielen Dank", bedankte und in diesem Moment schien er immer ein bisschen zu wachsen.
Jetzt ruht er auf unserem Friedhof. Vielleicht wachsen ja Pilze auf seinem Grab; im Winter unterm Schnee.