Kurzgeschichte
Der Wächter

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"Der Wächter"
Veröffentlicht am 07. Dezember 2015, 18 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
© Umschlag Bildmaterial: D. Albers, 2015
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Der Wächter

Der Wächter

 



Eines Morgens wache ich auf und stelle fest, mein Herz schlägt nicht mehr. Ich erstaune mich darüber und versuche zu spüren, versuche mich und meinen Körper zu spüren. So liege ich horchend und forschend fühlend in meinem Bett, wobei ich bewegungslos bin. Ich höre nichts. Ich spüre nichts. Unschlüssig zögernd bewege ich mich und spüre, dass die Schwerkraft nicht intakt ist. Jedenfalls nicht bei mir. Ich bin flüchtig, ich schwebe, ich bin leicht. Mich wundernd, richte ich mich unbeholfen auf, besser, ich versuche

mich aufzurichten. Das sind schon fremde Bewegungsmuster, denke ich, unheimliche fremde Bewegungsmuster. Es ist, als würde ich durch mich hindurch fühlen, als wäre ich ein Teil der Luft. Ob ich mich wohl selber atmen könnte, frage ich mich. Würde ein Fenster geöffnet, der Luftzug zöge mich hinaus, nach draußen, nach außerhalb des Raumes, des Hauses, er zöge mich in die Atmosphäre. Es verwundert mich, doch muss ich just in diesem Augenblick, an ein Interview denken, welches ich vor drei Monaten, mit einem Heroindealer geführt habe, das Interview fand in einem Gefängnis statt und der zu Interviewende war

gerade 21 Jahre alt. Als ich gedanklich noch bei der ersten Frage des Interviews verharre, kommt meine Frau in den Raum und öffnet ein Fenster und meint, ich solle endlich aufstehen und Kaffee sei fertig und sie müsse nun los, arbeiten und es stinke wie in einem Pumakäfig und so weiter und so fort. Mehr höre ich nicht, denn es zieht mich hinaus und ich verbinde mich gerade mit der Atmosphäre und werde zu einem Tiefdruckgebiet und regne drei Jahre lang.

Als alle Menschen in diesem Land, Schwielen und Falten von der permanenten Feuchtigkeit haben, höre

ich auf und entwickele mich zurück zum Menschen und mein Herz schlägt und ich spüre wieder die Schwerkraft. Ich ruhe mich aus. Schlafe. Sieben Tage und Nächte.

Am nächsten Morgen wache ich auf, trinke schwarzen Kaffee und besuche die Nassräume. Ich dusche und ziehe meinen wunderschönen, dunkelblauen Anzug an, gebe meiner wieder glatthäutigen Frau einen Kuss und gehe, bzw. fahre, zur Arbeit. Ich benutze für meinen Weg zur Arbeit die öffentlichen Verkehrsmittel und lächele. Morgens ist das Benutzen der öffentlichen Verkehrsmittel nicht sehr lustig,

manchmal hilft ein Lächeln. Letztlich ist es jedoch fast nie lustig, in den öffentlichen Verkehrsmitteln. Es sind so viele Besonderheiten in Menschengestalt unterwegs. Zumeist bin ich der Einzige, der mir ausreichend normal erscheint. Bisweilen hat man noch ein oder zwei Menschen, welche die Uhr richtig ticken hören. Für die Masse jedoch, tickt die Uhr anders. Die Szenerie morgens erinnert mich an einen Film. Ich denke oft, dass kann doch niemand wollen, was sich hier jeden Morgen ereignet. Dicht gedrängt. Rücken an Rücken. Seite an Seite. Geräusche. Feuchtigkeit. Eine zu starke, unangenehme Wärme oder es ist zu kalt. Von Gerüchen will

ich gar nicht erst anfangen. Das kennt doch jeder, der mal in einem überfüllten Bus oder in einer überfüllten Straßenbahn saß oder stand. Schön ist das nicht, auch nicht nach drei Jahren Regen. Ich kann mir einen Sitzplatz sichern, da ich an einer Haltestelle einsteige, an der nicht viele Menschen einsteigen, Stadtrand. So sitze ich da und versuche teilnahmslos aus dem Fenster zu schauen, während sich die Straßenbahn mit Menschen füllt, welche ich auffällig unauffällig beobachte. Die meisten Menschen haben ihre Häupter gesenkt und blicken auf Displays. Lautsprecher in den Ohren, mit den Fingern wischend, immer in Bewegung.

Altersgruppe: ca. 15-68 Jahre. Einige telefonieren und versuchen leise dabei zu sein. Andere telefonieren und versuchen laut dabei zu sein. Ich spüre einen Blick auf mir ruhen. Ach ja, da ist ein Mann, der mich anblickt. Ich sah ihn mal am Hauptbahnhof, dort ist sein Revier. Neben dem Mann versuchen die Anderen Abstand zu halten, denn er scheint sich lange nicht gewaschen zu haben. Als ich ihn einst am Hauptbahnhof sah, bediente er sich an einem Mülleimer. Es schien mir damals so, als würde er einen halben Cheeseburger eines großen und zu unrecht beliebtem Fast-Food-Restaurants aus dem Behältnis fischen,

welchen er kurzerhand in seinen Mund schob und mit zwei Bissen in sich hinein saugte. Eine surreale Szene. Um uns herum liefen und tobten die Menschen. Alle gingen ihrem very important Business nach, hatten es eilig oder wollten einfach nur weg. Vielleicht weg von sich selbst. Viele rannten, ob ihres dürftigen Zeitmanagements, um noch einen Zug zu erreichen und versuchten sich dabei aus dem Weg zu gehen, was schlicht unmöglich war, da es einfach so viele Personen dort waren. Bettelnde Erdenbewohner auf dem Asphalt vor den großen und doch zu kleinen Eingangstüren.  Läufige Banker. Geschäftige Obsthändler.

Verdächtiges Sicherheitspersonal. Sanfte Handwerker. Rauchende Rollstuhlfahrer. Aggressive Rentner. In diesem sozialen und strukturellen Setting stand der Mann und aß sein gefundenes Mahl. Warum ich das beobachtete? Weil ich manchmal die Aufmerksamkeit darauf richte!

Ich sitze also in der Straßenbahn und der Mann sieht mich an. Er wirkt, gleichsam wie damals am Hauptbahnhof, ruhig und wissend, irgendwie abgeklärt, ja, amüsiert, angekommen. Seine Haare lang und filzig, einer Rastafrisur nicht unähnlich, sie scheinen ein Eigenleben zu führen. Seine Kleidung ist dieselbe, wie an dem Tag am Bahnhof. Unter

seiner vergilbten, schmutzigen Jacke, blicken Plastiktüten unter den Ärmeln hervor. Genauso unter den Enden der Hose an der Taille und seiner Hosenbeine und an seinem Hals. Das war damals auch so und ich erinnere mich in diesem Augenblick daran, dass es so war. Ich hatte damals den Eindruck, er schütze sich damit vor irgendetwas. Vielleicht vor dem Virus der verkohlenden Zeitknappheit, dem Virus, dem die Menschen sich immer mehr aussetzen und immer weniger anzukommen scheinen. Wie er mich jetzt so ansieht, glaube ich nicht, dass er durch mich hindurch sieht, nein, ich glaube eher, er entdeckt etwas in mir, er

entdeckt, dass ich nicht frei bin und an einer Art zu leben festhalte, welche ich im Grunde nicht für lebenswert halte. Vielleicht, nein, ganz sicher, sieht er den Zwang der menschlichen Existenz in mir. Ich habe den Eindruck, der Mann ist völlig in diesem Augenblick verhangen. Er fragt nicht mehr, er weiß schon alles. Er ist einer Wahrheit habhaft, welche die meisten in diesem Leben nicht kennen lernen werden. Er hat dieses ganze Theater hinter sich gelassen. Dieser Mann spielt nur noch und das mit allen Sinnen. Er nimmt sich nicht mehr unnötig wichtig, körperliche Grundbedürfnisse ja, ansonsten nur lächeln, er weiß, er ist für ein höheres

als das menschliche Ideal von Bedeutung.

In diesem Augenblick erscheint er mir wie ein Wächter. Er wacht über die Menschen, über die getriebenen Existenzen. Wachend und wohl wissend, dass er das alles schon seit hunderten von Inkarnationen hinter sich hat. Dieser Mann muss nichts mehr beweisen. Dieser Mann muss sich nicht mehr einer perfiden Machtstruktur hingeben, um sich besser zu fühlen. Er muss nicht mehr erniedrigen und bewerten. Er muss auch nicht mehr wählen oder sich für etwas Neues entscheiden. Eine reine Form der Existenz. Aufs Wesentliche reduziert

oder besser: Aufs Wesentliche erhöht. Ich habe das Gefühl er blickt in mich hinein und rät, nein, weiß, was ich denke und ich lächele ihn an. Ihn, der immer zu lächeln scheint und nur Hunger und Durst kennt aber kein Begehren, kein sich Profilieren, kein um Liebe-Kämpfen, kein Besitzen-Wollen. Gib mir etwas von deinem Wissen, von deiner Weisheit ab, denke ich, bitte, gebe mir etwas von dir ab, bitte! Will ich doch ebenso zur Ruhe kommen und in Liebe mit mir selbst sein und in Liebe mit den noch suchenden Menschen sein, mehr nicht - mehr nicht. Er wacht über uns. Er wacht über mich. Und jetzt, als ich diese Gedanken denke, erinnere ich

mich daran, dass vor meiner Zeit als Tiefdruckgebiet, dieser wachende Mann mir täglich begegnet ist. Jeden Tag saß oder stand er in meiner Nähe und wachte. Vielleicht will er mich abholen, irgendwohin, wo es interessanter ist, als in dieser Straßenbahn. Dieser Straßenbahn der Eilenden und um sich selbst Drehenden, triebhaft bemüht sich selbst am Leben zu halten. Die Haltestelle an der ich aussteigen muss, der Hauptbahnhof, ist die nächste. Ich nicke dem Wächter beim Aufstehen zu und forme mit den Lippen das Wort Danke und steige aus der engen Straßenbahn aus. Das Wetter ist typisch für die Gegend. Es ist bewölkt, doch

trocken. Ich blicke den Mann durchs Fenster der Straßenbahn an und sehe, wie der Mann aufsteht und aussteigt und zum nächsten Mülleimer geht, er greift rein und zieht einen halben Hamburger heraus und beißt hinein. Beißt nochmals zu und der halbe Hamburger ist weg. Danach nimmt er sich einen Zigarettenstummel vom Asphalt und zündet diesen an. Er zieht mehrmals daran und löst sich auf. Er verraucht und ist weg.

Ich bin allein mit all den wichtigen Menschen. All den wichtigen und beschäftigten Menschen. Einige atmende Augenblicke später strenge ich mich an,

rennend, den für mich so wichtigen ICE zu bekommen, den um kurz nach, den, der mich am Ziel angekommen, in meine Arbeitswelt entlässt.

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strandgigant

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sugarlady Eindrucksvoll und mit Bedacht gelesen.
Liebe Grüße
Andrea
Vor langer Zeit - Antworten
strandgigant Danke!
Lieben Gruß.
Detlef
Vor langer Zeit - Antworten
Tintenklecks ... heute erst entdeckt, Deine Geschichte, sie war atemberaubend und gut.
Erinnert sie mich auch an meine jahrelangen morgendlichen U- und S-bahnfahrten durch Berlin zur Arbeit, der Begegnung mit denen, die eben von den Lebensresten der anderen existieren. Und oft fragte ich mich, was sie wohl in diese Lage brachte, was einst ihr Traum, ihr Leben war. Doch meist in Eile oder zu feige für ein Gespräch hat es nur für eine Spende gereicht.
LG vom Tintenklecks
Vor langer Zeit - Antworten
schnief Eine klasse Geschichte , realistisch und gleichzeitig fesselnd.
Liebe Grüße Manuela
Vor langer Zeit - Antworten
Gabriele Zunächst mal freue ich mich, dich und deine Bücher "gefunden" zu haben *lächel*
und dann möchte ich einfach nur noch applaudieren ob dem tollen Lese- und InspirationsVergnügen!!
Da ich, wenn ich mit Bus und Zug unterwegs bin, tatsächlich das Vergnügen habe, ohne Hast unterwegs zu sein, beobachte ich auch gerne die Menschen um mich herum und häufig fühle ich in sie hinein. Was ich an deinen Schilderungen faszinierend finde, ist dein Schreibstiel - derart fessenlnd und mittendrin :-)
Mit Freude lasse ich liebe Grüße und ein dickes Kompliment da,
Gabriele
Vor langer Zeit - Antworten
strandgigant Danke!
Vor langer Zeit - Antworten
Heidrun Der Wächter hat gut beobachtet,
mir fällt das in öffentlichen Verkehrsmitteln auch auf,

Deine Heidrun
Vor langer Zeit - Antworten
Herbsttag Deine Art zu schreiben saugt einen unweigerlich in den Hotspot der Geschichte. Man ist sofort "mittendrin" sieht den "Wächter" und die eigentlich "armen" Menschen, die wie Ameisen umeinanderwuseln. Ira
Vor langer Zeit - Antworten
Herbsttag Danke für die Münzen. Ira
Vor langer Zeit - Antworten
Herbsttag Danke für die Münzen.
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