Die Menschheit selbst empfand sich in der Allgemeinheit nicht grausam. Sie hielt sich für intelligent, pazifistisch und anpassbar, auf alles vorbereitet und natürlich überall rechtmäßig eingreifend. Das Wort, das sie nutzen, um ihre Überlegenheit gegenüber jeder anderen Spezies auf der Erde zu zeigen, war menschlich. Eigentlich ein kompletter Witz, wie Chase nun fand. Die Gesellschaft glaubte wirklich dieses Wort erfunden zu haben, es zu prägen und nur sie konnten es sein. Nur sie konnten menschlich sein. Der Begriff war absurd. Er war so absurd, dass Chase
hätte auflachen können, als er daran dachte. An diesem Abend verspürte Chase genau das. Er stellte es infrage was man als menschlich bezeichnete, nachdem er das Video immer und immer wieder in seinem Kopf hatte abspielen lassen. All die Bilder, die er damals gesehen hatte, hatten sich tief in seine Seele eingebrannt, so dass er sich auch wirklich jedes Mal, bei dem Hauch der kleinsten Andeutung immer daran erinnern würde. Seine Finger zitterten wie die letzten Tage auch. Er beugte sich leicht vor und dann wieder zurück. Sein Atem verriet, dass er aufgeregt war, dass er vor etwas greifbare Angst hatte. Er wollte am liebsten fliehen,
doch seine Glieder waren so schwer und kalt, dass er sich nicht einen Zentimeter hätte bewegen können. Mit einem Mal war er der Gefangene seines eigenen Körpers. Immer wieder schüttelte er den Kopf, versuchte etwas anderes zu sehen, als immer wieder diesen dunklen Raum, die schwarzen Gestalten und die in Neonlicht aufblitzenden Klingen, die den Brustkorb seiner Frau aufschlitzten. Unkontrollierbar fing er an etwas schneller zu wippen, als würde es ihm Ruhe schenken. Er saß noch immer auf seinem Sofa in der kalten Wohnung und hatte den ominösen Brief immer noch nicht geöffnet. Dieser lag unschuldig vor
ihm, als hätte er nichts getan, als würde er ihm nichts tun wollen. Doch Chase‘ Fantasie fuhr Achterbahn, denn genau denselben Umschlag hatte er damals auch vor seinen Füßen liegen gehabt und der hatte nichts Gutes. „Nein…Ich…Will das…Nicht sehen!“, gab Chase schließlich von sich, stand ruckartig auf, dass selbst die Katze Tatze mit einem Mal aufsprang, als sie das Wohnzimmer wohl nur durchqueren wollte, um zur Küche zu gelangen. Wie, als hätte ihn ein Geistesblitz getroffen, stand er gerade wie ein Soldat vor seinem Sofa. „Nein, ich will das nicht sehen!“, wiederholte er standhafter und verzog
das Gesicht wütend, als er auf den Briefumschlag sah. Er würde ihn nicht öffnen. Er verbat es sich. Seine Angst schnürte ihm die Brust zu. Er wollte nicht noch einmal so ein Video sehen müssen. Er wiederholte dieselben Worte, als würde ihn der Umschlag dazu überreden und er ihm widersprechen wollen. Als hätte der Umschlag ihn beleidigt, griff Chase nach diesem und schmiss ihn wütend gegen eine Wand links von sich. Der Wunsch, was auch immer da drin war, sei nun kaputt, verschwand mit einem Mal, als er sah wie es wieder auf den Boden fiel. Vielleicht sollte er doch hinein schauen? Die Ungewissheit
machte ihn wahnsinnig. Vielleicht war es nur ein Brief seiner Eltern, nicht ein weiteres Video einer grausamen Verstümmelung seiner Frau. Abermals schüttelte der Mann den Kopf und wandte sich ruckartig ab. Er floh aus seiner Wohnung. Eilig zog er sich die Schuhe über, ergriff den Schlüssel und stürmte hinaus. Die Tür fiel laut hinter ihm zu. Chase stürzte die Treppen hinunter zum Ausgang und blieb mit einem Mal stehen, als wäre ein Hindernis vor ihm, als er vor die Türe getreten war. Die Eingangstür hatte er aufgestoßen, nach Luft und Freiheit ringend und doch blieb er auf einmal stehen. Kalter Wind schlug ihm ins
Gesicht. Er atmete hastig ein, als hätte er Minuten unter Wasser verbracht. Gierig atmete er durch, schnappte nach frischer, kalter Luft und starrte vor sich. Sein Gesicht mochte in diesem Moment wohl so aussehen, als hätte er einen Geist gesehen.
Die Kälte war ernüchternd. Er stand da, schob die Hände langsam in seine Jackentaschen und blickte auf die Straße an der das Haus stand. Nur wenige Autos fuhren vorbei. Die Gegend war an sich sehr ruhig. Hin und wieder kamen am Wochenende ein paar Gruppen von Jugendlichen vorbei, die das Leben noch genossen und in feierlicher Stimmung
Lieder sangen. Doch unter der Woche geschah selten etwas. Alles war ganz normal. Nichts hatte sich geändert, außer sein eigenes Leben. Er war derjenige, der mit einem Mal so unglaublich viel Pech hatte. Er war der einzige, wie ein Auserwählter wurde er in dieser Gegend herausgenommen. Durch ein einziges Video, durch den Tod seiner Frau, war sein Leben auf den Kopf geworfen worden. All die anderen wurden verschont. Die Frage nach dem Wieso, hatte er sich gestellt, doch auf eine Antwort kam er nicht. Wieso war es nicht der Mann der Nachbarin, wieso nicht die junge Frau vom 7ten Stock? Chase atmete tief ein und hielt die Luft
an. Noch immer stand er direkt vor dem Eingang des Hauses und ließ den Blick etwas höher gen grauen Himmel schweifen. Nichts hatte sich für die anderen Menschen verändert. Es war nur sein Leben, das so sehr den Bach nieder ging. Nicht das Leben der anderen. Er konnte auf keine Hilfe hoffen, auf keinen Hoffnungsschimmer, wenn er es so wollte. Sie alle gingen an ihm vorbei, als würde er nicht gerade den Schrecken seines Lebens durchmachen. Keiner von ihnen fragte, wieso er gerade so bleich war. Wieso seine Augen rot waren und seine Augenringe tiefer, als wohl jeder
Nachthimmel. Langsam ließ er die Luft wieder aus seinen Lungen strömen. Doch bevor er sie komplett ausgeatmet hatte, ging die Tür hinter ihm auf. Ein kleiner Schockmoment. Chase stellte sich schon vor es hätte sich doch jemand in seiner Wohnung befunden, jemand sei ihm nach und nun wollte man auch ihn töten. Doch statt das seine makabere Fantasie bewahrheitet wurde, schnalzte eine ältere Frau voller Verachtung auf. „Also wirklich. Die jungen Menschen heutzutage…Sir, Sie stehen einer alten Dame im Weg…Sie sollten sich wirklich einen anderen Platz suchen, um hier
herumzulungern.“ Die gebrechliche und zitternde Stimme, der Frau ließ Chase sich sofort umdrehen. Überrascht erblickte er die Nachbarin, gleich hinter ihm. „Oh…Es tut mir Leid, Mrs Phillips.“, sagte er schnell und mit leiser Stimme. Erst jetzt blickte die alte Frau auf und schien Chase zu erkennen. Ihre zuvor noch erzürnten Gesichtszüge wandelten sich in Sekunden zu Mitleid. Sie wusste schließlich auch, was in den letzten Tagen mit seiner Frau geschehen war. Zu mindestens die grobe Version: Eden Andersson ist gestorben. „Ach, Mister Andersson…“, sprach sie und hob die Schultern leicht an, klopfte
sich sanft auf den Oberschenkel und schenkte ihm schließlich ein Lächeln. „Entschuldige, mein Junge.“, langsam stieg die Nachbarin die paar Treppenstufen auf den Gehweg hinab und hielt sich an der Hauswand fest. Erst als ihr Gehstock dann endlich Halt fand, konnte sie sich auf diesen stützen. Doch sie ging nicht sofort, sondern blieb noch einen Moment stehen, ergriff den Arm von Chase und drückte ihn im großmütterlichen Stil. Sie schien zu spüren, dass er den Halt verlor. „Tut mir leid, ich alte Frau sehe auch nicht mehr richtig. Ich hatte dich gar nicht erkannt. Geht es wieder aus dem Haus? Zum Einkaufen vielleicht? Musst
du nicht bald arbeiten?“ Chase verzog die Lippen zu einem gequälten Lächeln. Eigentlich war seine Nachbarin eine wunderbare kleine Frau, die gerne aushalf und selbst noch in ihrem Alter das Waschpulver allein die Treppen hochschleppen wollte. Man sah ihren Augen an, dass sie vieles erlebt hatte und vieles davon erzählen würde. Deswegen überraschte es Chase nicht, dass sie die Fragen hauptsächlich rhetorisch und aus Höflichkeit erfragte. „Machen Sie sich keine Sorgen. Ich…“, er blickte auf seine Füße und wieder zur Eingangstür, „Ich war gerade auf dem Weg nach Hause. Ich sollte nach Hause gehen. Habe noch Dinge… zu erledigen.
Tut mir leid.“ Auch wenn der kurze Moment der Ernüchterung ihn beruhigt hatte, als er aus dem Haus gestürzt war, so kroch das Monster „Angst“ wieder direkt aus seinem Loch wieder auf ihn zu. Er spürte wie er seine Hände zu Fäusten ballte. Sich der Nachbarin anzuvertrauen war aber nicht der richtige Moment, nicht die richtige Vorgehensweise, dachte sich Chase, wie er sich dazu zusammenraffte eine Hand aus der Jackentasche zu nehmen und die Tür wieder zu öffnen, um im Treppenhaus zu verschwinden. „Ach, Jüngchen.“, rief die alte Frau aus und nickte ihm aufmunternd zu, „Komme
jederzeit vorbei. Ich habe mehr als genug freie Zeit. Die kann ich dann auch mit jemanden verbringen, der sich vielleicht etwas von der Seele reden will.“ Mit diesen Worten drehte sich die alte Frau um und konzentrierte sich schließlich darauf einen Fuß vor den anderen zu setzen, um voran zu kommen. Sie wollte ihn nicht belagern und dafür dankte er ihr. Er brauchte nicht noch mehr Menschen, die scheinheilig meinten, sie würden verstehen in was für einer Lage er sich befand. Sie kannten nicht den Grund von Edens Tod, glaubten wahrscheinlich alle es sei irgendeine Krankheit gewesen oder nur
ein Autounfall. Chase blieb einen Moment stehen und sah ihr nach. Manche Menschen waren wirklich menschlich, zeigten Nachsicht, wollten Helfen und Glück und Freude über jemanden bringen. Doch das taten die wenigsten. Auch wenn er sich hätte bedanken sollen für ihr Angebot, blieb Chase still und wandte sich wieder dem Treppenhaus zu, langsam ging er die Stufen hinauf. Vorsichtig schob er den Schlüssel ins Loch und drehte ihn um. Die Wohnung hatte sich nicht verändert. Es war niemand da gewesen, niemand der sich versteckt hatte, um ihm aufzulauern. Wärme strahlte heraus und als er die
ersten Schritte hinein ging, überkam ihn wieder die Trauer, die Erkenntnis, dass er alleine war. Er machte sich nicht die Mühe wieder die Schuhe auszuziehen, sondern lief mit diesen ins Wohnzimmer. Sein Blick fiel auf den Umschlag, der an der gegenüberliegenden Wand auf dem Boden lag. Nein, er würde ihn nicht lesen, nicht anfassen, nicht einmal in der Nähe von ihm stehen. Ausweichend nahm er den kürzesten Weg zur Küche. Tatze stand an ihrer Schüssel und aß schnurrend ihr Trockenfutter. Ihm schenkte sie keinerlei Aufmerksamkeit. Das Essen war wichtiger, als der trauernde Wittwer. Chase lief ohne Umwege zu
einem Schrank in der Küche und riss die Türen auf. Er und Eden waren zwar keine Menschen, die abends das ein oder andere Gläschen tranken, trotzdem hatten sie einige Flaschen in Reserve. Es konnte immer vorkommen, dass sich jemand zu ihnen einlud oder man eben Gäste eingeladen hatte, die dann etwas trinken wollten. Chase griff nach dem stärksten was er finden konnte. Die Flasche Gin wurde schließlich aufgemacht und das auf dem Tisch stehende Glas aufgefüllt. Er kippte es sofort hinunter. Der Alkohol brannte scharf und ließ ihn Schnaufen. Er war nicht daran gewöhnt einen hochprozentigen einfach so zu
trinken. „Beruhige dich, Chase. Beruhige dich!“, fuhr er sich selbst laut an, knallte die Hand mit dem Glas auf den Tisch und atmete noch einmal tief durch. Sein Körper sank in sich zusammen und er setzte sich auf einen der Stühle am Tisch. In einer Hand das nun wieder leere Glas, in der anderen die Flasche. Wer sollte ihn schon aufhalten. Er würde sie austrinken. Viele Menschen tranken, wenn es ihnen nicht gut ging, doch er wusste, dass das keine Lösung war, aber der Drang nach einem schwebenden Zustand und einem nicht funktionierendem Gehirn war größer, als die Vernunft. Das zweite Glas wurde
gefüllt.
tooshytowrite ...oho! |