Kapitel 68 Flucht
Elin rannte die Stufen hinab bis zu der Stelle an der Algim liegengeblieben war. Nach wie vor gab der Mann kein Lebenszeichen von sich. Ein kleiner Blutstrom lief aus einer Wunde auf der rechten Stirnseite des Zwergs und über seine Wange. Sie wäre am liebsten einfach losgelaufen, wieder Sentine hinterher und hoffentlich in Richtung Ausgang. Aber… Elin musste sichergehen.
Unsicher stand sie einen Moment über den gefallenen Mann gebeugt. Dann streckte sie vorsichtig eine Hand aus um
an Algims Hals nach einem Puls zu tasten oder nach dem Windhauch eines Atmens. Elin zuckte zusammen, als sie tatsächlich warmen Atem auf ihrem Handrücken spürte. Algim lebte noch… Bevor sie jedoch dazu kam, darüber nachzudenken was sie jetzt tun sollte, rührte der Zwerg sich stöhnend. Seine Augen öffneten sich, brennenden Kohlen gleich und er schlug ohne Vorwarnung zu.
Der Hieb holte Elin sofort von den Füßen, zu überrascht, sich irgendwie zu verteidigen. Sie krachte gegen das Geländer der Treppe, das Holz ächzte unter ihrem Gewicht und plötzlich sah sie sich selbst wie Algim zuvor haltlos
die Stufen hinabfallen. Um sie herum drehte sich alles und die Gejarn drohte endgültig das Gleichgewicht zu verlieren. Bevor es jedoch dazu kam, hatte eine Hand sie gepackt und zurück gerissen. Elin stolperte gegen die sicherere, stabile Wand und sank halb bewusstlos daran herab. Benommen nahm sie den in dunklen Samt gekleideten Schatten Algims wahr, der ungerührt zusah, wie die Gejarn versuchte trotz der pochenden Schmerzen irgendetwas zu tun.
Elin war sich absolut sicher nun sterben zu müssen, während der Zwerg sich über sie beugte… und schweigend den Kopf schüttelte. Der Anflug eines kalten
Lächelns huschte über seine Züge, verschwand jedoch genau so schnell wieder, wie er gekommen war. Stattdessen wischte er sich lediglich mit einem Stoffstreifen das Blut von der Stirn und setzte sich dann Elin gegenüber hin, locker an das Geländer gelehnt. Wortlos hielt er ihr das Tuch hin und erst jetzt wurde ihr klar, dass sie selbst blutete. Algims Schlag hatte eine große Platzwunde hinterlassen, die sich über ihre Schläfe zog.
Die Gejarn konnte sich nur fragen, was das jetzt wieder sollte. Er hatte eben verhindert, das sie in den Tod stürzte und nun schien er sich plötzlich Sorgen zu machen? Vermutlich fürchtete Algim
nur, was sein Thane wohl tun würde, wenn er erfuhr, dass er sie beinahe getötet hätte. Das letzte was sie jetzt wollte war, auch noch mit dem Blut dieses Bastards in Berührung zu kommen. Trotzdem nahm sie das Tuch zögerlich entgegen und legte es dann beiseite.
Algim musterte sie nur von seinem Platz aus, das wütende Feuer in seinen Augen zumindest für den Moment erloschen.
Die Stimme des Zwergs war kaum mehr als ein Flüstern. ,, Sagt mir eines.“ , begann er. ,, Warum habt ihr mich grade nicht einfach liegen lassen ? Und sagt mir jetzt nicht ihr wüsstet nicht, was passieren würde, sollte ich überleben.
Ihr hättet dafür sorgen können, dass ich nicht wieder aufwache. Ihr bräuchtet nur erklären ich sei gestürzt. Vermutlich würde mein Thane euch sogar glauben.“
Algim schien es wirklich nicht zu verstehen. Wie wurde jemand nur so? Algim mochte das Schwert seines Hauses sein, aber wie kam es das er nicht wusste was Empathie war? Oder Schuld ?
,, Ich schätze euch zu erklären, was Mitleid ist , würde Jahre dauern.“ , erklärte sie kühl. Es sollte sie nicht kümmern, sagte Elin sich. Der Mann war nach Kasrans Aussage älter als die meisten Menschen je wurden. Wie konnte es sein, das er Mitleid nicht begriff?
,,Ich sehe ihr habt eure Dreistigkeit nach
wie vor nicht verloren. Aber falls es euch entgangen sein sollte, ein paar Jahre sind nichts für mich.“
Und das, wurde Elin plötzlich klar, war der Punkt. Aus ihrer Sicht mochte Algim bereits uralt sein. Aus Sicht seines Volkes hingegen, da war er nicht mehr als ein Kind.
,, Habt ihr je Zweifle an dem was ihr tut ? Oder warum ?“
Der Zwerg zögerte. Offenbar hatte er nicht mit einer Gegenfrage gerechnet. Und ganz sicher nicht mit so einer. ,, Für eine Gefangene stellt ihr ziemlich unbequeme Fragen auf die ihr keine Antwort verdient. Aber ihr wart ehrlich zu mir also will ich es auch sein. Um die
weniger persönliche Frage zuerst zu beantworten, ich wurde Ausgebildet seit ich zehn war. Fünfzig Jahre lang habe ich alles gelernt was man vom zukünftigen Marschall erwarten würde es gibt für mich kein warum. Keine Alternative. Das ist der Pfad für den ich geboren wurde, kleine Gejarn. Und ich werde ihm bis zu meinem letzten Atemzug verfolgen. Es gibt keinen Platz für Zweifel.“
Das, dachte Elin, klang beinahe zu sehr nach Galren. Und wer hatte Algim letztendlich zu dem Gemacht was er war ? Kasran, sein Thane. Wie viel mehr musste es ihn da Schmerzen, das der selbe Mann, der ihn zur Waffe gemacht
hatte ihn nun dafür Schalt, dass er seine Aufgabe erfüllte?
Einen Moment wirkte dieser ach so furchtbare Krieger nur all zu menschlich. Verloren in einer Rolle, die er nie gewählt hatte. ,, Wenn das die weniger persönliche Antwort ist…“
,, Mein Haus führt seinen Ursprung direkt auf den Herrn des Feuers und die Zeit vor unserer Flucht selbst zurück. Auch wenn die Wahrheit wohl nicht einmal mehr Kasran kennt. In seinem verschlungenen Geist gibt es Türen, die er nicht mehr zu öffnen wagt, Erinnerungen die er sich entschieden hat zu vergessen, wie mir scheint. Er ist selbst für einen Zwerg unglaublich alt.
Aber eine Sache gibt es, die sich nie geändert hat. Wir sind seit jeher der Schild unseres Volkes gewesen. In der alten Heimat haben wir es mit dem Schwert geschützt. Nach unserer Ankunft hier haben wir die Wälle dieser Stadt aus dem Boden gestampft. Und jetzt seid ihr hier und der Prophet will uns alle in den Untergang führen. Erneut. Es gibt hier keinen Platz für Zweifel. Ich tue was ich für richtig halte.“ Algim stand auf. Der kurze Moment in dem er jeglichen Schrecken für Elin verloren hatte schwand. Stattdessen kehrte das Feuer in die Augen des Zwergs zurück. ,, Wenn es nach mir ginge, wärt ihr alle längst Tod und das Problem gelöst. Wenn eure
Freunde in vier Tagen nicht das Weite suchen, wird es mir ein Vergnügen sein, diesen Fehler zu korrigieren.“
Er spuckte die Worte fast aus und erneut war es der unverhohlene Hass darin, der Elin einen wimmernden Laut entlockte. Algim war verrückt und brutal. Das dies nicht seine Schuld sein mochte, speilte in diesem Moment keine Rolle. Er wusste genau wie sie, dass er sich von diesem Pfad sehr wohl abwenden konnte. Das konnte man immer, dachte Elin. Niemand konnte einem sein Schicksal aufzwingen. Aber leider war die Wahrheit für den Marschall eine ganz andere. Er ging in seiner Rolle auf...
Algim stapften an ihr vorbei die Treppe
hinauf ohne sie noch eines weiteren Blickes zu würdigen.
Elin hingegen blieb sitzen wo sie war, auch als Sentine wieder an ihre Seite flatterte. Der kleine Vogel schien sie besorgt zu mustern, als wollte er fragen ob sie weiter könnten.
,, Es geht schon.“ , erklärte sie leise, während sie sich schwerfällig aufrichtete. Nach wie vor stand sie nicht ganz sicher, aber Elin würde auch keinen Moment länger zögern. ,, Zeig mir wie man hier raus kommt…“
Als hätte Sentine nur auf ihr Kommando gewartet, segelte der Vogel die gewundene Treppe hinab. Die Gejarn musste sich beeilen um überhaupt noch
mit ihr Schritt halten zu können und die Holzvertäfelten Wände rasten geradezu an ihr vorbei. Fenster jedoch gab es hier keine mehr.
Elin sah die Tür hinter der das Verließ lag, in dem sie vor einigen Tagen aufgewacht war. Hier war es überraschend kalt und sie verlangsamte ihre Schritte etwas. Sich das Gewicht der Erde um sie herum vorzustellen hatte etwas Beunruhigendes und immer noch führte die Treppe abwärts. Bisher war sie noch nie so weit unten gewesen, aber Sentine schien genau zu wissen wohin sie wollte. Z8elstrebig führte das Wesen sie bis zum Ende der Treppe, wo diese in einem großen, höhlenartigen Gewölbe
mündete. Die Wände des Raums verschwanden in der Finsternis. Zögerlich trat sie unter einem, aus stabilen Holzpfosten errichteten, Türrahmen hindurch und sah sich um. Es gab nur eine einzige Lichtquelle, die den Raum etwas erhellte, eine Öllampe, die von einem Haken in der blanken Decke hing.
Elin streckte eine Hand danach aus und nahm sie an sich, während sie weiter in das Gewölbe hinaus trat. Sentine hatte sich mittlerweile in eine Fledermaus verwandelt und hängte sich prompt an den Boden der Laterne. So viel also dazu, sich den Weg zeigen zu lassen, dachte die
Gejarn.
Kisten und Säcke mit Vorräten waren im ganzen Raum verteilt übereinander gestapelt. Ein wenig erinnerte das ganze sie an ihr Versteck im Laderaum der Immerwind aber... seit dem schien so viel Zeit vergangen zu sein.
Auf den ersten Blick zumindest konnte sie absolut nichts entdecken, was einem Ausgang gleich käme, keine Leiter oder eine Tür die weiter führte. Aber Sentine hatte sie nicht aus einer Laune heraus hier heruntergeführt… falls das Wesen so etwas überhaupt hatte.
Eilig ging sie die Wände ab, die aus kaltem, grob behauenem Stein bestanden, fand aber wie schon erwartet nichts. Das
hier war der Keller, wo sollte es hier auch schon hingehen? , dachte sie fröstelnd.
,, Du könntest mir ruhig helfen.“ , murmelte sie und kam sich im gleichen Moment dumm vor auf eine Fledermaus einzureden, die ungerührt mit jeder Bewegung der Laterne hin und her schaukelte.
Sentine reagierte nicht und machte auch keine Anstalten irgendetwas zu tun. ,, Na vielen Dank auch.“
Sie durfte sich hier nicht zu lange aufhalten. Ihr fehlen würde früher oder später bemerkt werden,
das war ihr klar und dann würde Kasran das Haus auf den Kopf stellen lassen.
Und danach vermutlich die Weststadt. Bis dahin musste sie sich bereits weit weg befinden.
Elin trat resigniert gegen eine der Kisten, die von Moos und Moder überzogen auch prompt unter dem Treffer nachgab. Schwammiges Holz knirschte, bevor sich ein Strom aus Kartoffeln und Weizenkörnern über den Boden ergoss. Elin machte lediglich einen Schritt zurück und sah zu, wie die Körner in einem Riss im Fußboden verschwanden. Ein Riss in dem eine beachtliche Menge Getreide verschwand… Einer aus dem das gurgeln von Wasser heraufdrang…
Die Gejarn ließ sich rasch auf ein Knie
nieder und spähte in den Riss, die Laterne so dicht neben ihr Gesicht haltend, wie möglich, ohne sich zu verbrennen. Tatsächlich glitzerte dort unten Wasser in der Tiefe. Der Grund um den Spalt herum war weich, als hätte die beständige Feuchtigkeit ihn genauso angegriffen wie die Kisten hier unten. Elin ertastete weiches Holz.
Vielleicht war hier einmal so etwas wie eine Luke gewesen, dachte sie, aber Jahrhunderte aus Staub und wohl auch einige Umbaumaßnahmen hatten sie praktisch unsichtbar werden lassen. Nun jedoch waren die Angeln lange verrostet und das Material so schwach, das sie nur ein wenig daran ziehen musste um es
abzulösen.
Was darunter zum Vorschein kam, erinnerte sie an die Wasserrinnen, die sie in den Katakomben gesehen hatte nur kleiner. Klares, eiskaltes Wasser schoss in einem stetigen Strom dahin.
Selbst ein Zwerg würde niemals durch die Röhre passen, dachte Elin. Aber sie selber war bei weitem nicht so massig. Es wäre einen Versuch Wert auch wenn sie keine Ahnung hatte, wo der Tunnel endete. Im schlimmsten Fall irgendwo in den Katakomben. Ein Todesurteil ohne einen Führer der sich auskannte. Im Besten vielleicht an einem der Stadtbrunnen. So oder so, es war ihre bisher beste
Chance.
Elin schreckte kurz zurück, als das kalte Wasser ihre Stiefel und Hosen durchtränke. Es war nicht sehr tief, aber da sie sich nur geduckt bewegen konnte, war sie sofort triefnass.
Sentine hingegen hatte dieses Problem nicht und landete uneingeladen auf ihrer Schulter, um sich über dem Wasserspiegel zu halten. Bevor sie losging, zog sie noch rasch eine der morschen Kisten über die Lücke im Fußboden, die sie aufgebrochen hatte. Es war keine besonders gute Tarnung, aber besser, als ein Loch mitten im Raum zu hinterlassen. Das würde sofort zu fragen führen. Aber vom Zustand der Vorräte
hier unten war das Lager wohl sowieso vergessen worden. Zumindest hatte sie nie einen Diener gesehen, der Waren von hier unten geholt hätte…
Grün leuchtendes Moos hing von der Tunneldecke hinab, manchmal so tief, das es fast das Wasser berührte. Elin riss einen Streifen aus ihrem Hemd und machte sich daran, die Pflanzen beiseite zu schieben, tunlichst darauf bedacht, dass sie auf keinen Fall ihre Haut berührten. Das würde kein Spaziergang…