Ich armer, kleiner, unscheinbarer Punkt werde oft übersehen. Dabei habe ich so viel zu erzählen:
Meine Bedeutung wird immer wieder verkannt. Doch ich kann so gebieterisch wirken.
Wenn zum Beispiel einer sagt: „Wer keine Fehler macht, macht nichts. Punktum. (E.M.), dann klingt das endgültig und eleganter, als wenn ein anderer sich aufbläst: “Sie haben hier nichts zu melden. Basta.“
Oder denken Sie mal an die Höhepunkte in ihrem Leben, als Ihnen die richtigen
treffenden Worte punktgenau aus dem Munde schwebten. Wenn Ihnen aber dieses Glück nicht widerfuhr, träumten Sie doch bestimmt einmal davon, dass Ihr Chef Ihnen sagte:“Frau Meier, Sie haben es auf den Punkt gebracht.“
Von den Höhepunkten in Ihrer Liebe will ich ja gar nicht reden, als Sie mit allen Fasern fühlten (denn denken konnte Sie ja nicht mehr): „Verweile doch, du bist so schön!“
Doch lassen Sie uns die Schwachpunkte nicht vergessen. Was, Sie haben keine?. Doch, doch. Auch Sie, lassen Sie sie nur zu, sie machen Sie so sympathisch. Als Mann sage ich Ihnen: „Ihr schönster Schwachpunkt ist, wenn Sie schwach
werden. Und Sie brauchen sich dessen nicht zu schämen, denn Sie können ja nur schwach werden, weil Sie immer so stark sind.
Verzeihen Sie, punktament rede ich mich beim menschlich allzu Menschlichen fest. Jedenfalls sollten Sie, werter Herr, die neuralgischen Punkte Ihrer Frau Gemahlin ganz genau kennen und Sie, gnädige Frau, eben solche bei Ihrem Göttergatten. Glauben sie mir, so können Sie Punkte sammeln, bis Ihnen der Morgenstern leuchtet, und selbst dann wollen sie gar keinen Schlusspunkt mehr setzen.
Aber ich schweife ab ins Ätherische, sind doch die Punkte im ganz normalen
gesellschaftlichen Leben auch nicht von geringer Bedeutung. Ich weiß ja nicht, in welchem Verein Sie sind, aber egal, das haben Sie doch auch schon erlebt: Wenn der erste Punkt in der Jahreshauptversammlung aufgerufen wird, sind Sie wie alle anderen auch voller Mitteilungsdrang und möchten sich endlich mal reden hören. Ja, und dann werden die Punkte der Tagesordnung abgearbeitet und die kostbaren Bezüge der Sessel abgewetzt, bis Sie erschöpft ein kleines Nickerchen machen, von dem Sie erschrocken aufwachen, wenn der Versammlungsleiter den letzten Tagesordnungspunkt aufruft. Sie wollen
natürlich allen zeigen, dass Sie nicht geschlafen haben und Sie mischen noch einmal kräftig mit wie alle anderen auch, die, geschickter als Sie, mit offenen Augen gepennt und dennoch ein schlechtes Gewissen haben. Jetzt wird meine Bedeutung noch einmal überdeutlich, denn ein Verzweifelter, den sein Ischias quält, ruft verärgert in die Versammlung hinein: „Nun kommen Sie doch mal endlich auf den Punkt!“ „Jawoll“, schreit ein anderer, „Ende der Debatte!“ Darauf kräht ein Spaßvogel: „Der Punkt steht nicht auf der Tagesordnung!“ Da erleidet der in puncto Chaos unerfahrene Versammlungsleiter einen Schlaganfall.
Sie sehen, wenn es um die Punkte geht, erleben sie alles von der Komödie bis zur Tragödie.
Tja und damit wären wir bei der Relevanz der Punkte in ihrem Lebenslauf und in der Literatur.
Wissen Sie noch, das fing ganz einfach an: „Punkt, Komma, Strich, fertig ist das Mondgesicht.“
Ich weiß genau, an wen Sie denken. Doch mein Onkel würde jetzt seinen Lieblingsspruch zitieren: „Das tut nichts zur Sache.“ Womit er ausnahmsweise post mortem einmal Recht hätte. Also, wohin waren wir gepunktet? Ah ja, die Literatur. Sie lesen Eich Kästners „Pünktchen und Anton“ und sind
entzückt.
Aber wenn Sie dann die Pünktchen auf der Nase ihrer ersten Liebe sehen, sind Sie hingerissen und Sie schreiben Ihr erstes Liebesgedicht, ohne Punkt und ohne Komma. Sie ist selbstverständlich begeistert, was ich ihr verzeihe. Schließlich leidet sie wie Sie unter demselben Pauker, der Ihnen die Punkte einbläut, dass Ihnen Punkt und Sehen vergeht, und der Sie zur Belohnung permanent bepunktet.
Und was kommt dabei heraus? Sie werden ein Punk und punktieren Ihren Körper, sodass der Pauker über so viele Punkte in Panik gerät. Doch wie Sie ja wissen, geraten solche Punkte in
Vergessenheit. Sie möchten sich nicht mehr gerne daran erinnern, wenn Sie Sachbearbeiter beim Ordnungsamt geworden sind und akkurat jeden Tag ihr Punktepensum auflisten, schwarz auf weiß.
„Was sagen Sie? - „Die Sehnsucht nach der Farbe bleibt.“ - Sie werden von mir geholfen. Buchen Sie Ihren nächsten Urlaub nach Indien. Dort sehen Sie anmutige Frauen und Männer mit einem mysteriösen roten Punkt auf der Stirne.Wenn Sie wieder daheim sind, schwärmen Sie immer noch. Dann schreiben Sie, wenn Ihre Gattin oder Ihr Gemahl schon schläft, farbige Gedichte und bringen Ihre Sehnsucht auf den
Punkt.
© Ekkehart Mittelberg, Dezember 2015