In meinen beiden ersten Schulgeschichten habe ich düstere Seiten von Schule in den 50er Jahren beleuchtet. Diesmal habe ich Erfreulicheres zu berichten, jedoch nicht nur. Das Unerfreuliche ist jedoch nicht der Schule zuzuschreiben, die ich erlebte..
Als wir 1955 in die Oberstufe versetzt wurden, hellte sich das Lernklima auf. Das lag zum einen daran, dass wir nicht mehr geschlagen wurden, und zum anderen daran, dass auf der Oberstufe junge engagierte Lehrer eingesetzt
wurden, denen daran lag, uns zu guten Demokraten zu erziehen.
So kam es, dass sich einige von uns, je nach Begabung und Neigung unterschiedlich, auf die eine oder andere Schulstunde freuten.
Ich war von dem Deutschunterricht fasziniert und das, obwohl wir weiterhin die Klassiker lasen, die mich auf der Mittelstufe gelangweilt hatten, weil dort oberflächlich Inhalte nachgebetet wurden,die für die Adenauer-Zeit systemstabilisierend waren. Das sollte sich nun gründlich ändern, weil der Deutschlehrer uns beibrachte, gegen den Strich zu lesen und gerade das zu
diskutieren, was eine bürgerliche Tradition der Klassiker übersehen und bewusst stillgelegt hatte.
Aber es waren nicht in erster Linie die deutschen Klassiker, sondern internationale Literatur, die einigen von uns das Gefühl von Freiheit im dumpfen Mief eines Jahrzehnts der Restauration spießbürgerlicher Moral gaben.
Ich orientierte mich an vielversprechend aufsässigen Titeln und so kam ich mit „Der ehrbaren Dirne“ und den „Schmutzigen Händen“ nach Hause. Meine Eltern waren wie einige Erzieher ihrer Generation damals noch im
nationalsozialistischen Denken befangen, hatten aber eine Rückkehr zur Kirche beschlossen. Sie verfolgten den umerziehenden Deutschunterricht mit Misstrauen, wagten aber nicht den Deutschlehrer des humanistischen Gymnasiums, zu dem sie mich geschickt hatten, offen in Frage zu stellen. Ich hätte mich hinter einer angeblichen Empfehlung des Pädagogen verstecken können, gab aber meine Buchauswahl wahrheitsgemäß als eigene Entscheidung aus.
Die Eltern hatten überhaupt keine Ahnung von der Philosophie Sartres, spürten aber intuitiv, dass diese ihre Erziehungsideale radikal in Frage stellen
würde, und so ergab sich schnell ein substanzloses Streitgespräch, in dem wir aneinander vorbeiredeten. Ich kann mich nur noch daran erinnern, dass sie Sartre einen respektlosen Nihilisten nannten, der alle bürgerlichen und christlichen Tugenden, ohne einen Ersatz dafür bieten zu können, niedermache. Sie sahen zwar berechtigt in Sartre einen antibürgerlichen Autor. Dennoch warf ich ihnen nicht unberechtigt vor, über Dinge zu reden, von denen sie nichts verstünden.
Wir hatten einen sehr großen Garten, dessen Erträge wegen des kleinen Gehalts meines Vaters für unseren Lebensunterhalt notwendig waren. Das
sah ich ein, und so arbeitete ich nolens volens im Garten mit. Aber unser Streitgespräch mündete in dem Befehl: „Du gehst jetzt in den Garten und gräbst das Kohlbeet um. Das wird dich von deinem Sartre kurieren.“
Was sollte ich machen? Ich wollte studieren und war von meinen Eltern abhängig. So ließ ich dann meine Wut an den Kohlstrunken aus, die ich ihrer Existenz beraubte.
Falls Sie darauf gewartet haben, dass ich etwas über Helmut Kohl sagen würde. Der hatte mit Sartre auch nie was am Hut.
© Ekkehart Mittelberg, November 2015