Teaser
Wie ist das, wenn man mitten im Krieg geboren wird? Ich weiß es. Ich wurde am 30. Juni 3072 geboren. Meine Mutter sagte immer, dass es ein herrlicher Tag war. Die Sonne stand im Zenit als ich das Licht der Welt erblickte. Kein Schatten trübte mein Gesicht. Meine Mutter sagte, ich schrie nicht, ich lächelte sie an und schlief zufrieden an ihrer Brust. Für ein paar Stunden stand die Zeit still. Es waren die glücklichsten Stunden seit vielen Jahren für sie.
Wie ist das, wenn man in einen Krieg hinein geboren wird, der sich nur
unterschwellig zeigt? Ich weiß es, ich bin mittendrin. Keine Bombe, kein verzweifelten Schreie und keine Toten und doch herrscht Krieg. Ich spüre es. Es ist so ein Gefühl. Und es ist kein gutes Gefühl. Es ist gefährlich. Wie eine Krankheit, die sich in deinem Körper einnistet und auf den richtigen Moment wartet, um auszubrechen. Ich weiß nicht, wie lange dieser Körper noch dagegen ankämpfen kann, aber ich weiß, dass es ihn töten wird.
3090 ist das Jahr der Stunde null, zumindest aus meiner Sicht. Schon lange waren die Spannungen zwischen den Fruchtbaren und den Unfruchtbaren spürbar. Ein friedliches Miteinander war
schon lange nicht mehr möglich. Aber dieser eine Tag, diese eine Sache, brachte das Fass zum Überlaufen.
2020 führte eine Pandemie zur fast vollständigen Ausrottung der Menschheit. Von 8 Milliarden Menschen überlebten kaum 500 Millionen. Doch es war nicht die Pandemie, die die Menschen dahinraffte. Es ist schlicht die Natur des Menschen, die Angst um sich selbst, die zum Tod der meisten von unserer Art führte. Als die Krankheit von Kontinent zu Kontinent sprang, ergriff die Panik die Massen. Läden wurden geplündert, Menschen auf offener Straße erschossen. Prepper flüchteten in Verstecke oder auf Berge,
die meisten mit einem Lachen auf dem Gesicht. Sie fühlten sich bestätigt in ihrer Leidenschaft, sich für den Ernstfall bereit zu machen. Der Ernstfall, der jetzt eintrat. Wie hatte so etwas passieren können? Menschen, die doch so zivilisiert waren, die sich über die Tiere stellten, gesellschaftlich und technisch so weit entwickelt waren. Doch die Angst vor dem Virus, vor der Infektion und dem damit unvermeidlichen Tod, brachte das ganze soziale Gefüge zum Wanken und schließlich zum Einsturz.
500 Millionen auf der gesamten Erde verstreut. 500 Millionen, die zwar die Pandemie überlebten, aber zum größten
Teil durch die Pandemie und die Immunisierungen unfruchtbar wurden. 2790 dezimierte sich die Zahl auf etwa 200 Millionen Menschen auf der Erde. Der Mensch gehört nun mehr oder weniger zu einer bedrohten Art. Viele Gruppen taten sich zusammen, aber im Lauf der Jahre bildeten sich zwei Gruppen heraus die Fruchtbaren und die Unfruchtbaren.
Ich gehöre zu den Fruchtbaren, oder besser gesagt zur gesellschaftlich besser gestellten Gruppe. Warum? Wir sind die Einzigen, die der Arterhaltung dienen können und deshalb unersetzlich sind. Allein diese Tatsache macht mich so wichtig, dass ich mich nur in den
Stadtteilen aufhalten darf, in denen wir Fruchtbare leben. Die Gefahr ist zu groß, dass mir etwas passieren könnte und ich nichts mehr zur Arterhaltung beitragen könnte meine bis dato einzige Möglichkeit, etwas für unsere Gesellschaft und für die Menschheit beizutragen. Ich lebe mit meinen Eltern in der Stadt Sol. Soweit ich weiß leben hier mit uns etwa 5 Millionen Menschen. Eine ziemlich große Stadt. Ich würde sogar behaupten wir sind die Stadt mit der größten Bevölkerungsdichte auf der ganzen Welt. Wir, die Fruchtbaren, machen etwa 5% der Bevölkerung hier in der Stadt aus. Ein verschwindend geringer Anteil,
wenn man bedenkt, dass wir die Menschheit retten sollen. Wir sind fruchtbar, weil wir immun gegen die Infektion sind. Alle anderen, die geimpft wurden, bezahlten einen hohen Preis für ihr Leben, sie bleiben ihr Leben lang kinderlos. Mir wurde mein Leben und die Aussicht auf Nachkommen von Natur aus geschenkt. Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Bin ich gesegnet, hatte ich Glück, hat das Schicksal es gut mit mir gemeint? Ich weiß nicht, ob es gut ist, in einer bedrohten Art auch noch zu einer Minderheit zu gehören.
Was an meinem 18. Geburtstag 3090 passierte, änderte alles. Die Zuteilung
änderte meine Sicht der Dinge, meine Einstellung, wie ich mich selbst wahrnehme, einfach alles! Heute, am 04. Juli 3090, bin ich an einem Punkt angekommen, an dem ich mich entscheiden muss.Und egal welchen Weg ich gehe, ich kann noch kein gutes Ende sehen.
Dion
Dion geht mit mir auf die Schule für Fruchtbare bei uns im Viertel. Er ist nicht sehr groß, aber dafür recht muskulös. In seine blonden Haare macht er immer viel Gel, was ich nicht besonders gutaussehend finde, aber er gefällt sich wohl damit. Ich finde, dass seine Kieferknochen zu stark hervortreten und dass seine blauen Augen nichts Warmes an sich haben. Oder um es in einem Satz zu sagen: Ich mag Dion nicht. Mögen wäre noch zu viel, ich hege keinerlei Sympathien für ihn. Im Gegenteil, ich habe Angst vor ihm. Eine Angst, die sich tief in meinem
Körper verankert hat. Ich fühle sie in jeder Faser meines Körpers und es beunruhigt mich, dass Dion mich derart beherrscht, ohne es zu wissen.
Dion ist beliebt in unserem Jahrgang. Und noch dazu ist er einer der klügsten Köpfe der Schule. Viele Mädchen werfen sich ihm geradezu um den Hals und hoffen, dass sie ihm am 30.06.3090 zugeteilt werden. Für mich wäre das ein Albtraum. Aber wenn sie gesehen hätten, was ich gesehen habe …
Seine Familie ist die reichste und mächtigste in Sol. Wer ihn zu seinen Freunden zählen kann, hat es sicherlich
geschafft. Soweit ich weiß, hat er acht Geschwister, was seine Eltern zu den wichtigsten Vertretern der Fruchtbaren macht. Keine andere Familie hat so viele Kinder wie Dion’s. Sie sind sozusagen der Inbegriff der Arterhaltung und deshalb auch unantastbar.
Zum Glück bin ich unscheinbar, sonst wäre ich Dion an diesem Abend auf der anderen Straßenseite aufgefallen. Wer weiß, was passiert wäre, wenn sie mich gesehen hätten. Bei dem bloßen Gedanken daran fange ich wieder an zu zittern.
Es war vor genau einem Jahr. Ich weiß das, weil meine blonden Haare ein gutes Stück kürzer waren und weil ich mit
meiner besten Freundin über unsere Zuteilung im kommenden Jahr geredet hatte.
Als ich auf dem Heimweg war, bin ich nicht wie üblich durch die schmale Gasse, die unsere Straße mit der Milleniumstraße verbindet, sondern ich bin um den Block gelaufen. Ich wollte noch nicht Zuhause sein, sondern den Moment für mich genießen, ohne meine Eltern.
Schon von Weitem habe ich die kleine Gruppe gesehen und mir im ersten Moment nichts dabei gedacht. Bei uns im Viertel gibt es keine Kriminalität, es würde keinen Sinn machen, Fruchtbare anzugreifen oder gar zu töten, wir sind
das wichtigste Glied in der Kette. Als ich nur noch hundert Meter entfernt bin erkenne ich, dass die Gruppe aus Typen von meinem Jahrgang in der Schule besteht. Und eines habe ich sofort erkannt, die blonden Haare von Dion. Es gibt in Sol nicht sehr viele naturblonde Menschen und noch viel weniger davon bei den Fruchtbaren. Und jemand wie Dion sticht einfach in’s Auge. Ich sehe die Gruppe laut lachend und johlend im Kreis stehen, in der Mitte Dion. Zuerst dachte ich, er würde etwas erzählen und die anderen würden sich darüber amüsieren. Dann sah ich das Kleiderbündel, das vor Dion auf der Straße lag. Ich sah, wie Dion mit voller
Kraft auf das Bündel eintrat. Seinen Tritten verlieh er mit jedem Schrei, der ihm dabei entfuhr, noch mehr Gewicht. Jetzt wurde mir klar, dass das Kleiderbündel ein Mensch war. Ich sah eine blutige Hand, die aus den Kleidern hervorleuchtete. Das Blut schien wie eine Signalfarbe zu leuchten und ließ mich für einen kurzen Augenblick innehalten. Die Angst und die Erschütterung lähmten mich für einen Augenblick. In dieser Sekunde hörte ich zwischen den Tritten Stöhnen, Keuchen und einen markerschütternden Schrei – der Mensch lebte noch. Mir wurde mit einem Mal schlecht und ich fürchtete, mich übergeben zu müssen. Ich konnte
nicht wegsehen, die Angst lähmte mich zu sehr.
>> HAST DU ES JETZT KAPIERT? KOMM NIE WIEDER HIERHER, DU NUTZLOSES STÜCK DRECK! <<, schrie Dion in Rage und trat einen Schritt zurück. Wie ein Künstler, der stolz sein Werk betrachtete. Nichts regte sich mehr. Jetzt verstand ich, das Kleiderbündel musste ein Unfruchtbarer sein. Mir viel auf, wie sehr ich die Szene anstarrte und schon zu lange wie angewurzelt da stand. Sofort ging ich weiter, ohne noch einmal einen Blick auf die andere Straßenseite zu riskieren. Hinter der nächsten Ecke übergab ich mich. Mir war heiß und gleichzeitig
zitterte ich am ganzen Körper. Als ich mich einigermaßen beruhigt hatte, zückte ich mein Handy und rief die Sicherheit. Der Mann am anderen Ende der Leitung versicherte mir, sich gleich darum zu kümmern, aber ich wusste, dass nichts passieren würde. Ich hatte gesagt, dass es sich um einen Unfruchtbaren handeln musste, der halb tot auf der Straße lag. Wer half schon einem Unfruchtbaren?
Zuhause im Bett konnte ich lange nicht einschlafen. Immer wieder sah ich Dion’s Augen, die wie wahnsinnig auf das Kleiderbündel starrten. Der wahnsinnige Blick und das genussvolle
Grinsen jagten mir einen Schauer über den Rücken. In dem Moment wusste ich, dass Dion gefährlich ist und dass ich mich besser von ihm fernhalten würde. Wenn das doch alles so geklappt hätte …