Diese Erzählung spielt in den 50er Jahren im Unterricht der Mittelstufe eines Gymnasiums.
Die Prügelstrafe stand in den deutschen Schulen auf der Tagesordnung, und kaum jemand stellte sie in Frage.
Damals gab es Schulstunden, in denen die Angst wie eine riesige Spinne an der Decke des Klassenraums hing und wir die Köpfe einzogen, damit sie uns nicht in den Nacken fiel.
Wir erhielten einen neuen Lehrer in Mathematik, den wir nach der Begrüßung mit einem aufgeregten, erwartungsvollen Tuscheln empfingen.
Das war schon zu viel. Er meinte gleich zeigen zu müssen, wer der Herr im Hause ist, und donnerte los: „Ich habe Hände wie Abortdeckel. Wo die hinhauen, da wächst kein Gras mehr!“ Einer meiner Mitschüler konnte bei dieser grotesken Drohung nicht an sich halten und lachte glucksend in sich hinein, wohl weil er sich die Hände bildlich vorstellte.
„Steh auf!“ brüllte ihn der Pädagoge an. Kaum stand der lange Schlacks vor ihm, da wurde er auch schon mit ein paar schallenden Ohrfeigen wieder in die Bank zurück geprügelt. Solche Szenen wiederholten sich öfter bei relativ nichtigen Anlässen.
Aber es gab da ein seltsames Gegengewicht, das für mich zu einem unvergesslichen Erlebnis wurde.
Dieser Lehrer unterrichtete auch Musik, und wenigstens das sei positiv vermerkt: Er brachte uns wunderschöne Lieder bei, u.a. auch einige von dem Barock-Dichter Paul Gerhardt (1607-1676). Vielleicht kennen ja einige auch heute noch den Text von „Geh aus mein Herz und suche Freud“ oder von „O Haupt, voll Blut und Wunden“.
An einem Tage, als er mal wieder zugeschlagen hatte und ich tief verängstigt und traurig war, machte er uns mit Gerhardts Lied „ Die güldne
Sonne“ vertraut .
Hier ist der Text der ersten Strophe, den wir am Ende der Stunde sangen:
Die güldne Sonne
Die güldne Sonne, voll Freud und Wonne
Bringt unsern Grenzen mit ihrem Glänzen
Ein herzerquickendes, liebliches Licht.
Mein Haupt und Glieder, die lagen darnieder;
Aber nun steh ich, bin munter und fröhlich,
Schaue den Himmel mit meinem Gesicht.
Ich fühlte mich durch den Text und durch die schlichte Kraft der Melodie wunderbar getröstet, richtete mich wieder auf und meine Beklemmung verflog, jedenfalls für diesen Tag.
© Ekkehart Mittelberg, November 2015