1. Autoren-Challenge
"Eines Tages wirst du aufwachen und keine Zeit mehr haben für die Dinge, die du immer wolltest. Tue sie jetzt!"
Du, nein - dein Protagonist, deine Protagonistin las diesen Spruch des brasilianischen Schriftstellers Paulo Coelho und wusste in dem Moment, dass dies eine an sie gerichtete persönliche Aufforderung war. Und er/sie tat es!
Wie lange lag ihm Inge schon in den Ohren, er möge doch bitte die Leiter aus der Kammer holen und die obere Reihe des Bücherregals aufräumen. Es würde wohl nicht lange dauern und eines der Bücher fiele heraus. Es könne jemanden erschlagen.
Nun, dafür war es nun zu spät.
Mark hat es just heute Morgen auf den Kopf bekommen.
Aufgeschlagen liegt es nun auf dem Boden. Aufheben oder ignorieren? Immerhin hat er jetzt eine Beule. Mindestens, wenn nicht sogar eine Platzwunde. Ist da vielleicht Blut? Kopfschmerzen. Die wird er bestimmt bekommen.
Sei es, wie es sei. Das Buch kann nichts dafür. Also aufheben und zurück ins Regal.
Paulo Coelho … brasilianischer Schriftsteller. Kennt Mark gar nicht. Muss wohl ein Buch von Inge sein. Obwohl … sie mag eigentlich nur diese Liebesschnulzen.
„Eines Tages wirst du aufwachen und keine Zeit mehr haben für die Dinge, die du immer wolltest. Tue sie jetzt!“, liest Mark und runzelt die Stirn. Heute hätte dieser Tag sein können. Erschlagen von einem Buch und da waren noch so viele Dinge, die er schon immer tun wollte. Das passt wie die Faust auf's Auge. Ein Wink mit dem Zaunpfahl.
Tief in Gedanken versunken, legt er das Buch beiseite und setzt sich an seinen Schreibtisch. Noch immer diesen Spruch und die Wahrheit der Worte im Kopf, blickt er nachdenklich aus dem Fenster.
Dann weiß er es. Das ist es.
Er muss eine To-Do-Liste machen. Nur ganz wichtige Punkte, wie zum Beispiel …
Ja was zum Beispiel?
Auf jeden Fall Prioritäten setzen. Das hieße aber erst alle Pflichten, dann das Vergnügen. Doch nein, es heißt ja, „Was ich schon immer wollte.“ Betonung liegt auf „wollte“.
Wer will schon Pflichten erledigen?
So nahm sich Mark ein Blatt Papier und begann seine To-Do-Liste.
Sich von Inge trennen.
Wieder frei sein und auf Piste gehen. Weiber aufreißen und endlich jemanden finden, der seine fleischlichen Gelüste befriedigt. Für's Erste. Dann eine Frau für's Herz suchen. Nicht
eine, die ständig mit dem Feudel hinter ihm her ist, weil wieder eine Fluse oder ein Krümelchen gesichtet wurde.
Aber will er das wirklich? Sich von Inge trennen? Mark ist jetzt beinahe dreißig Jahre mit Inge verheiratet und sie haben sich eine Menge zusammen aufgebaut. Dieses wundervolle Heim, mit der riesengroßen Bibliothek müsste dann aufgeteilt, zerstört werden. Ist es das wert?
Da muss Mark nochmals drüber nachdenken. Zweiter Punkt?
Endlich Sonja kennen lernen.
Sonja. Sonja kennt Mark aus dem Internet. Täglich schreiben sie sich. Mit ihr kann Mark
über alles reden/schreiben. Sie versteht ihn. Er versteht sie. Sie reiten auf einer Wellenlänge. Mit Sicherheit müssen sie Seelenverwandte sein.
Aber will er das wirklich? Sich mit Sonja treffen? Sonja ist halb so alt wie er und auf dem Foto in ihrem Profil eine äußerst aktraktive Frau. Wenn er sich im Spiegel betrachtet … nicht gerade der Traum aller Frauen. Dann bekommt er vielleicht eine Abfuhr und dann geht möglicherweise auch die Schreibfreundschaft den Bach runter. Ist es das wert?
Es ist nicht leicht, eine To-Do-Liste zu schreiben. Mark hat sich das viel einfacher vorgestellt.
Die meisten Menschen schreiben dann solche Sachen drauf, wie Fallschirm springen, eine Weltreise machen, ein Buch schreiben, einen Baum pfanzen.
Dergleichen würde Mark auch gern tun.
Wie oft hat er schon gesagt: „Hätte ich dies oder jenes doch nur getan.“ oder „Das und das müsste man mal noch machen.“
Aber wenn es nicht sein soll, dann eben nicht. Geht deshalb die Welt unter? Gibt es nicht viel wichtigere Dinge zu erledigen?
Mark knabbert an seinem Stift.
Wenn er so nachdenkt, fällt ihm auf Anhieb …
Mit den Eltern aussöhnen.
Mark hat seit Jahren keinen Kontakt mehr zu seinen Eltern. Von den Geschwistern ganz zu
schweigen. Damals gab ein Wort das andere und die Tür flog zu. Auslöser waren ständige Streitereien, Enttäuschungen, unerfüllte Erwartungen. Im Nachhinein alles Dinge, die total unnötig waren.
Mark weiß nicht einmal, wie es seinen Eltern momentan geht. Sie sind alt.
Mark fröstelt plötzlich ein wenig.
„ Eines Tages wirst du aufwachen und keine Zeit mehr haben ...“
Ein Klingeln an der Tür lässt Mark auf die Uhr schauen. Schon so spät? Sofort sprintet er los, um sich umzuziehen. Seine To-Do-Liste ist für's Erste vergessen.
Inge steckt den Kopf zur Tür herein und meint: „Du solltest dich beeilen. Jonny wartet
unten und ist schon ungehalten, weil du noch nicht fertig bist.“
Jonny war Mark's ältester und bester Kumpel. Mit ihm konnte er wahrlich Pferde stehlen. Eine richtige Männerfreundschaft eben. Schnell eilte Mark zum Fenster, um Jonny Bescheid zu geben, dass er auf dem Sprung ist. Dabei sah er seine angefangene Liste.
Grinsend zerriss er sie. Man muss Prioritäten setzen.
Heute geht's nach Wacken zum jährlichen Heavy-Metal-Festival.
© A.B.Schuetze11/2015