Schuhgrösse 38
„Schuhgröße 38?“
Die Verkäuferin erwartete mit fragendem Blick eine Bestätigung. Ich nickte und sie fuhr mit dem Kundengespräche fort.
„Das ist das gute Mittelmaß. Da ist das Angebot breiter als bei Über- oder Untergrößen. Manche der Modelle sind schnell weg, weil ja viele die Schuhgröße haben. Schauen sie sich in aller Ruhe hinten links um. In den vier Regalen finden sie garantiert was Passendes. Wären sie ein Mann, dann hätten sie mit 38 viel zu kleine Füße. Sie wären was Besonderes und hätten aber mit Sicherheit ihre liebe Not beim Schuhkauf.“
Sie lachte und gab mir die obligatorische Floskel, ich solle mich melden, wenn ich Hilfe bräuchte, mit auf meinen Weg nach hinten links. Ein erster suchender Blick auf die Regale. Ein Mangel an Schuhwerk herrschte wirklich nicht. Na ja, einige Modelle fand ich krass, andere
waren mir zu konservativ. Mode und persönlicher Geschmack, das sind zwei Dinge, die sich nicht immer vereinen lassen. Aber mit meinem Mittelmaß der Füße sollte sich was finden lassen. Zwei Paar erlangten meine vorläufige Gunst und ich nahm auf einer Holzbank Platz, um sie anzuprobieren.
Ich legte meine Tasche und die Schuhe neben mir ab und musste plötzlich grinsen. War das nicht die würdige Fortsetzung meiner Arbeit von eben? Ich hatte mich intensiv mit Verteilungen, Häufigkeiten und eben Mittelmaßen im Rahmen der Auswertung einer psychologischen Studie beschäftigt.
Es ist gut in der Mitte der Verteilung zu liegen. Jedenfalls im Auge des auswertenden Betrachters. Das Mittelmaß macht keine Probleme. Randlagigkeit führt zu hohen Streuungen. Erwächst daraus sogar eine Verteilung, die nicht der Norm entspricht, dann fangen die Probleme für den Auswerter erst
richtig an. Ergo, alles möglichst in Mittellage bringen.
Mir ist es gleich, ob meine Ansichten der Norm und der Mitte entsprechen. Ich fühle mich in der Lage meines Lebensmaßes wohl. Die Randlagigkeit sprechen mir andere zu. Sollen sie doch. Sollen sie ermitteln, wie mittelmäßig oder eben randlagig ich bin. Ihre Maßzahl ist garantiert nicht die meine. Mag mein Maß die Statistik verderben. Gibt es eine Maßzahl für schallendes Lachen der Gedanken?
Die Statistik hatte sich zu sehr an den vorderen Bühnenrand meiner Gedanken geschoben. Ich wollte ja nur ein paar Schuhe kaufen. Der Spätnachmittag war sonnig und ich sollte besser meine Zeit auf einer Bank im Park verbringen als auf einer Holzbank im Geschäft unter Kunstlicht.
„Alles in Ordnung?“ flötete es hinter mir. Natürlich, denn ich bin ja Mittelmaß, jedenfalls bei den Schuhen. Ich probierte die zwei Paar an und wählte eines für mich aus, um anschließend
geschwind zur Kasse zu marschieren. Meine Auswahl fiel auf ein Modell, was den Schuhen ähnelte, die ich gerade trug. Du bleibst dir treu, dachte ich bei mir. Sollte ich die Streubreite bei der Modellwahl mal erhöhen?
Foto: © Angelo Zitto
Worte: © Tusitala (Mai 2015)