Kurzgeschichte
Den Kopf verloren

Den Kopf verloren

Kurzgeschichte
und Foto

© fleur 2015

Die Frühlingssonne kitzelte mich durch die Jalousette des Schlafzimmerfensters an der Nase. Es war Sonntagmorgen, kurz vor sieben. Mein Mann gab leise Schnarchtöne von sich, doch das andere Kissen neben mir war leer, unberührt. Das hieß, unser grauschwarz getigerter sibirischer Mischlingskater war überfällig, erstmals die ganze Nacht über von zu Hause weggeblieben.
Bei seiner Angewohnheit, sich in Körben, Bodenvasen und anderen Behältnissen zu verstecken, musste ich sicher gehen, dass er nicht irgendwo im Haus eingesperrt war.
Leise stand ich auf. Die schwarzweiße Katze auf dem Kissen am Fußende unseres Bettes, die mich mit ihrer Fellzeichnung immer

ein wenig an Schneewittchen erinnerte, blinzelte mir träge zu, gähnte ausgiebig und schloss sofort wieder die Augen.
In unserer Wohnung war der Kater nicht, in den Kellerräumen suchte ich ebenfalls vergeblich nach ihm. Auch auf mein lockendes Rufen im Garten - nicht allzu laut, da es ja noch so früh am Sonntagmorgen war, - ist er nicht erschienen.
Also stieg ich ins Dachgeschoss, den Arbeitsbereich meines Mannes, welchen ich nur sehr ungern betrat, weil sich hier unsere Vorstellungen von Ordnung ganz besonders heftig in die Quere kamen. Die Tür stand offen. Den Kater fand ich auch hier nicht, doch ganz hinten unter dem

Schreibtisch lag ein hellbraunes Etwas mit zwei langen Ohren. Als ich mich ihm - über diverse Papierstapel, Hefter und Aktenordner hinweg steigend - vorsichtig genähert hatte, erkannte ich in dem Fellbündel einen jungen Feldhasen. Er schien nicht verletzt zu sein, hatte die Augen geöffnet, doch sein Blick war seltsam starr … War es die Schockstarre, oder war er etwa … ? Überhaupt, wie kam er hierher? War Ostern nicht schon vorbei?
Flugs rannte ich in unsere Wohnung hinunter und weckte meinen Mann.
“Du musst aufstehen, unter deinem Schreibtisch liegt ein Hase, der Hilfe braucht!“
“Was für ein Hase? Es ist Sonntag und

gerade mal sieben Uhr“, murmelte er schlaftrunken. Schließlich erhob er sich aber doch und stieg vor mir die Treppe hinauf.
Ihm über die Schulter schauend, glaubte ich meinen Augen nicht zu trauen, der Hase hatte inzwischen keinen Kopf mehr. Schnurrend saß unser Kater neben ihm, sein Blick war die reinste Unschuld. Mein Mann guckte mich böse an.
“Was soll das? Der braucht bestimmt keine Hilfe mehr am Sonntagmorgen!“
“Aber eben hatte er noch einen Kopf!“, beteuerte ich eilig, "wir müssen den suchen, nicht dass er hier irgendwo unter den Akten verwest und stinkt.“

Der Hasenkopf blieb unauffindbar. Es war klar, der Kater hatte ihn restlos aufgefressen,

samt Augen, Ohren, Zähnen, Knochen und allem sonstigen Inhalt.

Während wir uns nach der Entsorgung des kopflosen Hasen appetitlos um das Frühstück kümmerten, widmete sich der Kater wohlig seinem Verdauungsschlaf.
Zum Mittagessen gab es an diesem Sonntag statt der vorbereiteten Kaninchenkeulen Spiegelei.