Der Pechvogel
Sonja Zimmermann machte sich auf. Sie fuhr, wie üblich, jedes Wochenende zu ihrer Tante Maria. Ihr alter BMW war etwas betagt, aber erfüllte genau das, wofür er da war. Er brachte sie von A nach B. Die Strecke kannte sie praktisch auswendig. Über Land zu fahren, das gefiel ihr. Die einsamen Bauernhöfe, die Äcker und Felder, die an ihr vorbeitanzten, das beruhigte sie und ließ sie entspannen. Beruflich war es stressig, allein war sie zudem, weil sich vor lauter Arbeit schon gar keine Gelegenheit mehr fand einen Mann zu treffen.
So blieb eben Tante Maria mit ihren Tieren, den Pferden, Rolf, dem Schäferhund, den eifersüchtigen Gänsen und die Zicklein fand sie
auch immer nett. Tante Maria selbst war eine Seele von Mensch. Bei ihr konnte sie sich richtig wohl fühlen.
Heute allerdings war nichts mit Entspannung. Es goss in Strömen. Die eigentlich so schöne Fahrt über Land präsentierte sich von der ekelhaftesten Seite. Grau war es, zudem war sie diesmal viel zu spät dran. Die Scheinwerfer erfassten am Straßenrand einen Anhalter. Er war bereits völlig durchnässt. Im Hintergrund sah sie ein Motorrad an einen Stamm der Baumallee gelehnt. Und obwohl sie eigentlich nie Anhalter mitnahm, hielt sie doch. Sie hatte einfach Mitleid mit dem patschnassen Pechvogel. Sie streckte sich und öffnete die Beifahrertür.
„Kann ich helfen?“
„Könnten sie mich mitnehmen? Nur bis zum nächsten Dorf.“
Die Stimme war attraktiv, das Gesicht vertrauensvoll und offen. Der dunkelsträhnige, hochgeschossene Mann mochte im selben Alter sein, wie sie selbst, nämlich so um die dreißig.
„Steigen sie ein.“
Es quietschte ein wenig, als er Platz nahm. Sie fuhr los und ihr Anhalter dampfte vor sich hin.
„Ich heiße Franz Herbst“, stellte er sich vor. Sonja und Franz plauderten richtig nett miteinander, während die Scheibenwischer vergeblich gegen den Regenguss antobten. Sympathisch war er ja, da gab es nichts!
So erfuhr Sonja, dass er auf regennasser Fahrbahn mit dem Motorrad ausgerutscht und er die Maschine nicht mehr zum Laufen gebracht
hatte. Er sei überhaupt ein einziger Pechvogel. Die Eltern seien schon früh verstorben, er selbst geschieden. Den Job hätte er verloren, kurz, es sei eine einzige Katastrophe. Noch dazu hätte sich immer noch nicht die richtige Freundin gefunden und nun das. Dabei wollte er sich nur zwei Dörfer weiter vorstellen, wie es um einen Job bei der Apfelernte, Borsdorfer, bestellt sei.
„Und dann kommen sie ausgerechnet in dieses Oktober-Sauwetter“, ergänzte Sonja lachend.
„Richtig“, triefte Franz.
Und gerade, als sie zum Du übergegangen waren, da musste Sonja heftig bremsen. Mitten auf der Straße lag im Scheinwerferlicht eine tote Katze, schwarz natürlich.
„Was sollen wir machen? Wir können sie doch
nicht einfach liegen lassen“.
Franz Herbst stieg aus, wickelte die tote Katze in eine Decke und verfrachtete sie im Kofferraum. Als er wieder, erneut feucht geworden, am Beifahrersitz gelandet war, murmelte er.
„Sag ich doch, Pechvogel. Noch dazu eine schwarze Katze.“
„Ach was, sehen sie es doch positiv“.
„Du haben wir ausgemacht, schon vergessen?" Sie grinste.
„Wir werden ihr ein schönes Begräbnis bereiten. Wenn wir erst bei meiner Tante angekommen sind, wird sich alles finden“.
Doch keine drei Kilometer weiter, da verlor ein Reifen Luft. Sie hatten einen Platten.
„Na, jetzt überzeugt? Ich bin ein Pechvogel. Ich
ziehe das Unglück praktisch an.“
Sonja winkte ärgerlich ab.
„Da ist ein Feldweg, da biege ich mal ein. Die paar Meter auf der Felge, das wird schon gehen.“
„Ersatzreifen?“
„Ich kann auch mal Pech haben“, murrte sie, “der ist nämlich auch platt. Wollte ihn schon längst austauschen.“
Hinter diversen Büschen versteckt, tauchte ein Bauernhof auf. Er schien bewohnt, denn es brannte irgendwo Licht und der Schornstein rauchte.
"Siehst du, Glück muss man haben. Da kriegen wir Hilfe.“
Sie stiegen in den Regen aus und liefen zur hölzernen, verzierten Türe des Bauernhauses. Eigentlich war es irgendwie gar kein Bauernhaus.
Es gab zwar eine Scheune und eine Art Nebengelass, aber das erstaunlichste war das Blumenmeer, welches das gesamte Gehöft umschloss. Es schien so, als ob es sich um eine Gärtnerei handeln würde.
Als die Tür geöffnet wurde, lugten Sonja, Franz und links davon ein wunderschöner, gelber, nasser Rosenbusch herein. Im Türrahmen stand eine ältere Dame.
„Ach ihr armen Küken“, rief sie, „ihr seid ja vollkommen durchnässt. Kommt rein.“
Sie bedankten sich und betraten die Stube.
Die liebe, alte Dame hieß Kranzel, Mathilde Kranzel, aber alle würden sie nur Oma Kranzel nennen. Sie hatte etwas Spitzbübisches an sich. Man musste sie einfach gern
haben.
„Kindchen, willst du nicht dein Auto unterstellen. Drüben in der Scheune ist noch Platz“, wandte sie sich an Franz.
Sonja warf ihm den Schlüssel zu und Franz trabte los.
Oma Kranzel fasste Sonja am Arm.
„Und wir machen uns jetzt einen heißen Tee, Kindchen.“
Während also Mathilde werkelte, unterhielten sie sich.
„Etwas einsam hier, oder?“
„Och, es geht schon“, meinte Kranzel, „ich habe ja meine Pflanzen. Meine Tiere hier auf dem Bauernhof sind alle schon nach und nach verstorben. So bleiben mir nur die Pflanzen. Je weniger Tiere, je mehr Pflanzen, sozusagen als
Ausgleich“, zwitscherte sie."Die meisten haben wir im Garten begraben."
"Aha! Wir haben es gesehen, die vielen Blumen. Sie müssen ja ein grünes Händchen haben.“
„ Viel Arbeit“, mahnte Oma Kranzel. „Viel Arbeit. Dieser Hof hat der Teufel gesehen.“ Sie kicherte.
„Warum?“
„Ach der Boden, der taugt nichts. Alles Kies, da wächst nichts. Also viel Dünger, viel Humus.“
Franz kam zurück und legte den Autoschlüssel auf den Tisch.
„Na, Jüngelchen, das Auto gut untergebracht?“
„Klar doch, Oma. Zum Regnen hat es aufgehört.“
„Oma? Deine?“
„Nein, nein, alle hier in der Gegend nennen Frau Kranzel nur Oma.“
„Du, Schlingel“, mahnte die Kranzel mit dem
Finger. „Du bist doch ständig bei mir. Ohne Dich würde ich die Gartenarbeit gar nicht schaffen! Und ich bin Dir dankbar dafür.“ Sonja staunte, dann sagte sie sich aber, dass es eben am Lande so sei, dass jeder jeden kannte.
„Es ist egal, ob es regnet, oder nicht“, dozierte Oma Kranzel, „es ist schon Abend. Ihr bleibt über Nacht!“
Franz und Sonja sahen sich an, dann lächelte er und zwinkerte mit dem Auge.
„Das Gästezimmer ist immer fertig“, ergänzte Oma Mathilde.
Sonja schnappte sich die Autoschlüssel und sprang hinaus.
„Brauche noch meine Handtasche“, rief sie.
Sie ging zur Scheune, öffnete die Tür. Da stand ihr BMW. Aber nicht nur der. Rund 25 Autos
standen ebenfalls da. Manche waren schon richtige Oldtimer. Fast alle zierte bereits eine Staubschicht. Merkwürdig! Ein Pickup sah allerdings noch fahrtüchtig aus. Sie schnappte sich ihre Handtasche und öffnete den Kofferraum, um ihren Beauty-Case mitzunehmen.
Ach Gott, da lag ja noch die Katze.
Sie ging nachdenklich zurück.
„Die tote Katze“, sagte sie nur.
„Katze“, fragte Oma Kranzel.
Franz unterbrach sie.
„Ich hole sie gleich. Wir haben sie überfahren auf der Straße gefunden. Wir beerdigen sie.“
Da der Regen aufgehört hatte, standen sie nun zu dritt zwischen dem Blumenmeer. Eine große
Laterne erhellte die Szenerie. Franz hatte einen Beutel Humus gebracht und begann mit dem Spaten auszuheben. Die Rasendecke war tatsächlich dünn. Kurz darunter begann auch schon der Kies, zum Teil mit größeren Steinen. Franz schaufelte eine tiefe Grube, fast zu tief, wie Sonja fand. Die Katze wurde hinein gelegt.
„Ohne Decke?"
"Bloß nicht", winkte Franz ab.
Danach bedeckte er die Katze großzügig mit Humus, dann kam eine dünne Lage Kies und schließlich wieder großzügig Humus. Zum Schluss klopfte er die Stelle noch glatt.
"Bald kannst du wieder sähen, Oma."
Die Kranzel hatte ganz glänzende Augen "Vielleicht nehme ich Hibiskus-Samen."
"Da musst du schon bis Frühjahr warten."
Die Oma Kranzel war entzückt.
„Und um so schöner wird es wachsen und gedeihen“, klatschte sie in die Hände.
Sie gingen zurück und Oma Kranzel servierte Tee.
„Ach, wie ich mich freue“, plapperte sie, “wieder so ein kahles Stück erledigt. Und was ist hinten links im Garten, Jüngelchen? Der Schandfleck stört mich schon länger. Du hast versprochen, dass Du Dich drum kümmerst.“ „Ja doch, Oma, gleich Morgen, da bereite ich das Beet vor.“
Da fasste Oma Sonja bei der Hand. „Versucht das Beste, ihr Beiden“, sprach sie. „Der Junge kam immer wieder mit Freundinnen hierher, aber am nächsten Morgen waren sie wieder verschwunden. Haben immer Reißaus genommen, der Pechvogel.“
"Nicht doch, Oma!“ Franz war verlegen.
„Ich gehe jetzt zu Bett, gute Nacht“, verabschiedete sich Oma Kranzel. Die Beiden waren alleine.
Zwischen Handtasche und Beauty-Case fragte Sonja „Meinst du, dass ich auch einfach am nächsten Morgen abhaue?“
„Das hoffe ich nicht“, schnurrte Franz.
Nach einer Pause grinste er sie verliebt an.
„Ich glaube fest, dass Du da bleibst."
Dann bot er ihr noch einen Wein an.
"Versuch mal. Der ist aus den Trauben von Weinbauer Schleicher. Rein Öko."
Sie probierte.
„Schmeckt ein wenig nach Mandeln, echt erfrischend. Und ich dachte schon, du würdest
es mit dem Trick ersuchen mich betrunken zu machen.“
"Er grinste über beide Ohren und sagte scherzhaft. "Das habe ich gar nicht nötig."
sie lachte.
Franz verkorkte die Flasche wieder und überlegte, was er morgen in aller Frühe zuerst machen sollte.
Zuerst mit dem Pickup das Motorrad abholen, den Nagel aus dem Reifen vom BMW herausziehen, oder zuerst das Beet für die liebe Oma Kranzel herrichten?
Vielleicht zuerst das Beet. Oma freut sich dann immer so sehr. Endlich wäre dann der Garten für Oma Kranzel vollständig.