Kurzgeschichte
Geburtstag

Geburtstag

Geburtstag
Von M. Masomi
05.12.08




    Der alte Mann stand am Gatter.  Die Giraffen  reckten  ihre Hälse,  um das Futter zu erreichen.
  Ich stand da,  mit einem Latte Macchiato  und  einem über süßten  Cappuccino  in den Händen. Der Alte,  mein Vater,  stand bei dem Gehege,  der großen Huftiere und starrte  ihnen Löcher in das Fell. Von meinem Platz,  neben der Getränkebude,   sah der Mann noch gebrochenen aus,  als ich es mir vorstellen konnte.
  Die Plastikbecher in meinen Händen wollten mich verbrühen und der kalte Wind,  der Ende Oktober durch den Zoo pfiff,  wollte meine Wangen rot anmalen. Ich wusste,  er würde schwer atmen und vor sich hin seufzen.  Das machte er jedes Jahr und wahrscheinlich jeden Tag. Doch am 27. Oktober war es immer besonders schlimm.
  Langsam setzte ich mich in Bewegung und ging zu ihm herüber. Er verweilte in seinen Gedanken,  Erinnerungen.  „Papa!?“
  Er blickte zu mir,  seine Augen waren glasig und sie würden die Tränen nicht lange zurückhalten  können.  Er griff nach dem Cappuccino,  trank einen Schluck und flüsterte mit erstickender Stimme: „Ich liebe dich Andy! Das hab ich immer!“
  „Ich weiß Papa!“
  Wir stellten unsere Becher auf den Zaunlatten ab und er nahm mich an seine riesige Brust,  die wie durch meinen Wachstum vom Knaben zum Mann an gestachelt,  mit zuwachsen schien. Ich war 23 und würde wohl nicht mehr größer werden,  aber mein Vater war immer noch dieser riesige Bär,  trotz seiner fast sechzig Jahren.  Er lief nicht mal gebeugt,  es sei denn er stand alleine da. Dann sackte er in sich zusammen,  weil ihm alle Kraft fehlte.
  Nach unserer Umarmung trennten wir uns wieder von einander und tranken unsere Kaffees.  Wir schwiegen und begutachteten die großen Tiere. Saskia   hatte sie geliebt, alle Tiere. In Zoos und auf der großen weiten Welt.  Sie kannte alle Tiere bei ihren Namen,  sogar von so exotischen,  von denen ich mir heute nicht einmal die Namen merken kann.
  „Wie spät ist es?“ fragte mein Vater.
  „11:23 Uhr!“
  „Noch eine Minute.  Dann hielt ich sie in meinen Händen.  Damals,  sie war so ...so klein. Siebenmonatsfrühchen.  Ihre dunklen Augen sahen mich an,  als wollte sie sagen:  Das ist es jetzt? Für so einen Kerl drück ich mich durch einen Tunnel und ersticke fast? Dann lachte sie... und...mein Herz wollte zerspringen. Deine Mutter,  sie schrie Verwünschungen,  die wohl noch nie jemand aus dem Mund einer Zeugin gehört hatte. Sie hat mich für die Schmerzen gehasst und sie geliebt....
  Du,  du warst so ein hässliches Kind,  als ich dich das erste Mal sah... da fragte ich,  ob ich die Nachgeburt mitnehmen dürfte...Ha!...aber schau dich an,  du bist ein hübscher Junge geworden. Wenn deine Mutter das mitgemacht hätte,  was  ich während deiner Pubertät mit machen musste,  sie hätte dir mit der Bibel den Schädel eingeschlagen....“
  So schwelgte er jedes Jahr in seinen Erinnerungen und die Worte taten mir auch nicht mehr weh,  im Gegenteil,  sie machten mich stark und ließen mich diesen Alten Bären noch mehr lieben.
  Mama war Zeuge Jehovas.  
  Für sie hatten wir keinen Geburtstag,  keinen Namenstag,  kein Weihnachten,  kein Nikolaus,  kein neues Jahr....nichts.  Sie weigerte sich auch nur an einen Tag fröhlich zu sein.  Papa war tapfer,  er liebte sie und so akzeptierte er ihren Glauben,  dennoch schaffte er es zu jedem  6. Dezember einen roten Schuh mit Schokolade zu verstecken und uns Kinder mit kleinen Überraschungen zu erfreuen. Mama boykottierte alle seine romantischen Traditionen mit Ignoranz und Nichtteilnahme. Wenn sie besonders schlechter Laune war,  riss sie Dekorationen von den Fenstern und verfluchte ihren Mann.
  Als Maggy geboren wurde,  erhielten meine Eltern die Diagnose,  dass Saskia Leukämie habe.  Sie starb noch im selben Jahr,  da war ich gerade drei Jahre.
  Ich kann mich nicht mehr an ihr wirkliches Gesicht erinnern,  nur an das auf Fotos.  Wenn sie lachte,  auf dem Karussell fuhr,  oder im Kindergarten Wettessen von Schokoküssen gewann.  Sie war so verdammt schlau,  erzählte mein Vater immer und sie muss mich wie ihren Augapfel geliebt haben. So bald sie zu Hause war,  suchte sie nach mir und schloss mich in ihre Arme.
  Ich bin manchmal so verzweifelt,  weil ich mich nicht an ihren Geruch,  oder ihre Haut erinnern kann,  dann weine ich und meine Freundin schließt mich in ihre Arme. Ich weine wie ein Kind,  dem die Mutter fehlt,  dabei war Saskia gerade erst fünf geworden und ich weiß nicht einmal mehr,  wie ihre Stimme klingt....
  Meine Mutter gab sich die Schuld an Krankheit und Tod.  Weil sie einen Andersgläubigen  erlaubt hatte ihr Kinder zu machen.  Sie betete zu ihrem Gott um Verzeihung,  damit er ihre todkranke Tochter nicht von ihr nahm.  Als sie dann gestorben war,  kapselte sie sich von meiner Schwester und mich  ab.  Sie konnte uns nicht anschauen,  geschweige denn ein Wort an uns richten.  Sie saß in ihrem Schmerz auf dem Sofa und senierte  vor sich hin.  Kümmerte sich nicht um ihren Säugling geschweige denn um mich.
  Mein Vater hatte seinen Job aufgegeben,  nach dem sein Engel krank wurde und er schmiss den Haushalt,  seine verbliebenen Kinder und seine psychisch kranke Frau alleine,  ohne Hilfe irgendeiner Organisation.  Das Aufopfern machte ihn stark und er wusste,  er durfte unsertwegen nicht auch zu einem Geist werden wie Mutter,  obwohl er Saskia stärker geliebt hatte wie Mama.
  Mama konnte mit Liebe nur schwer umgehen,  genauso wie mit Glück.
  Nach den ersten beiden Jahrestagen ging Papa mit uns in den Zoo.
  Giraffen waren ihre Lieblingstiere.  Wir standen Stunden lang vor den langhalsigen Schönheiten und  Papa erzählte Maggy und mir von Saskia.  Wie hübsch sie doch war und so voller Leben und Liebe.
  Und wie sehr er mit Gott in Streit geraten war,  dass er ihm erst so spät das Vaterglück zuteil werden ließ und es ihm dann von dem einen auf den anderen Tag  entriss. Sie war das größte Geschenk an seinem Leben,  die Reinheit,  die ihm sein aufgekratztes Herz heilen half.  Die ihn bodenständig und erwachsen machte.  Die ihn alles und jeden lieben lernte. Durch das kleine Mädchen wurde er zu einem wahren Buddha,  des Lebens.
  Er erzählte von dem Zittern,  das durch seinen Körper gezogen war,  als würden alle Knochen aus dem Leichensack fallen,  den er schon so lange als das Gefäß seiner Seele betrachtete. Er erzählte von den Träumen und den Circusbesuchen,  den Rummelplätzen.
  Und dann wurde es dunkel und wir verließen den Zoo mit dem klarsten Bild unserer Schwester im Herzen,  welches keine Photographie je wiedergeben könnte.
  Als ich 2003 im Kino den Herr der Ringe sah und die Szene mit dem König vor den Hügelgräber lief,  da lief ich aus dem Saal und musste sofort zu meinem Vater und ihn in meine Arme schließen.
  Kein Vater sollte seine Kinder beerdigen!
  Mutter fanden wir als ich zehn war. Fünf Jahre vor dem Herr der Ringe,  aber als sie starb,  war es eine Erlösung und selbst heute denke ich nur selten über ihren Tod nach.  Doch jedes Jahr wird mein Herz am 27. Oktober schwer und ich frage mich,  welche Musik würde Saskia hören,  was würde sie über Gabi,  meine Freundin denken? Würden sie sich verstehen?
  Die Giraffen hatten das Heu aufgefressen und wir  leerten unsere Kaffees.  
  Mein Vater Seufzte wieder. Zwanzig Jahre. Zwanzig Jahre kamen wir jetzt hier her.
  Margarete kam aus Richtung des Elefantenhauses.  Der Geruch von Tieren  drang mir in die Nase und ich wusste,  Saskia musste hier sehr glücklich gewesen sein.
  Wir nahmen meine Schwester zwischen uns und knudelten uns ganz fest.
   „Es ist so,  als wäre sie hier!“ sagt mein Vater dann immer.
  „Ich fühle sie,  so als sei sie hier,  aber sie wird nie bei mir sein!“ antwortet meine Schwester dann.
  Ich küsse beide,  dann stehen wir auf und gehen in das Restaurant. Wir essen gut,  bestellen Wein und lachen. Ja wir lachen.  Denn es ist der Geburtstag meiner großen Schwester.  Der glücklichste Tag im Leben meines Vaters.