das geheimnis des berggeistes
In einem der einsamsten Täler des großen Waldgebirges wohnte einst eine arme Bauernfamilie. Sie lebten vom Wald, von ihren wenigen Schafen und Ziegen und von dem dürftigen Ertrag des Ackers, den sie der kleinen Lichtung abgerungen hatten. Das Wasser nahmen sie von der Quelle, die in der Nähe ihres Holzhäuschens entsprang. Der Vater machte Holz und ging auf die Jagd. Die Kinder mussten im Wald Beeren und Pilze sammeln, die reichlich vorhanden waren, während die Mutter sich um den Rest der kleinen Wirtschaft kümmerte. Im Winter schnitzte der Vater einfaches Spielzeug und
Gebrauchsgegenstände, die er dann im Frühling in der weit entfernten Stadt für kleines Geld verkaufen konnte.
Wenn es einmal nichts zu tun gab, streiften die Kinder müßig durch die Natur. Zu entdecken gab es immer etwas. Eines Tages hatte sich der Älteste weiter als gewöhnlich von ihrer Hütte entfernt. Er war ein Stück weit den Hang hinauf geklettert und entdeckte plötzlich einen Eingang in den Berg. Das war bestimmt der Weg zu einer Höhle!
Das Knacken von Ästen und ein raues Keuchen ließen ihn sich rasch zwischen großen Steinbrocken und hohem Farnkraut
verstecken. Sein Herz schlug heftig und die Angst kroch ihm den Rücken hinauf, als er ein wildes Wesen mit Ruß geschwärztem Gesicht und einem langen struppigen Bart sah. Es schleppte einen riesigen Sack, unter dem es fast zusammenbrach. Das war bestimmt der Berggeist, der hier zuhause war. Er verschwand eilends in dem Berg. Der Bub lief, so schnell ihn seine Füße trugen, nach Hause. An einem der folgenden Tage wollte er das Ganze erforschen.
Ein paar Tage später – er hatte Vater und Mutter nichts von seiner Beobachtung erzählt – ging der Bub zum Pilze sammeln in den Wald. Er schlug auch sofort den Weg zu dem Höhleneingang ein, als er den wilden
Gesellen beobachtete, wie er hier und dort die Steine betrachtete und dann verschiedene davon in seinen Sack steckte, bis der voll war. Dann lud er ihn auf den Rücken und schleppte ihn fort.
Mutig folgte der Junge dem wilden Gesellen. Als der sich plötzlich umdrehte, weil irgendwo ein Ast knackte, sah er den Buben, der sich nicht mehr hatte verstecken können. Wie angewurzelt, aber furchtbar zitternd, stand der Knabe da und wartete auf sein Strafgericht, während ihm alle Geschichten von den bösen Berggeistern in den Sinn kamen.
Doch der Berggeist schaute ihn beruhigend
an und gab ihm ein Zeichen mitzukommen.
Beide stiegen nun dem Höhleneingang entgegen. Jetzt erst bemerkte der Bub auch den Pfad, der sich zwischen Felsen, Baumstämmen und Buschwerk dahin zog und den er neulich wohl unbewusst gewählt hatte, ehe er den Höhleneingang entdeckte.
Sie mussten sich ordentlich bücken und sogar richtig klein machen, um sich durch das Loch im Berg zu zwängen. Der Gang blieb verhältnismäßig niedrig und schmal. Hier und da rieselte Wasser an den Wänden herab. Fledermäuse flatterten erschreckt auf. Manchmal leuchtete es grünlich von den Felsen, so dass man kein Licht brauchte,
aber doch sehen konnte. Tiefer und tiefer führte der Gang in den Berg und allmählich spürte der Bub die Wärme wie von einem Feuer. Endlich wurde der Gang breiterund öffnete sich schließlich in eine riesige Höhle.
Was der Bub hier sah, verschlug ihm den Atem. In der Mitte brannte ein großes Feuer, in das Köhler ständig neue Holzkohle warfen, die sie offensichtlich aus einem angrenzenden Raum herbei schleppten. Die Wände der Höhle selbst glitzerten wie von Edelsteinen, die die wundervollsten Farben und Formen hatten. Dann wieder entdeckte der Bub in den Felsnischen kunstvolle Gefäße – durchsichtig , weiß schimmernd oder bunt leuchtend. Er war überwältigt und brachte vor Aufregung kein Wort heraus, Der
Berggeist lächelte weise, brachte ihn zu dem Höhlenausgang zurück, verpflichtete ihn zum Schweigen und gebot ihm, in den nächsten Tagen wieder zu kommen.
Es war schon fast dunkel, als der Bub mit seinem Korb voller Pilze nach Hause kam. Niemand konnte ihm ein Wörtchen darüber entlocken, wo er die wunderbaren Pilze gefunden hatte.
In den nächsten Tagen regnete es in Strömen und man konnte nichts tun, als auf die Sonne zu warten. Wie im Traum ging der Bub herum, immer mit seinen Gedanken bei dem, was er in der Höhle erlebt hatte. Als dann die Sonne wieder schien, konnte er
nicht schnell genug mit seinem Sammelkörbchen im Wald verschwinden. Auf direktem Weg lief er diesmal zu dem Höhleneingang, wo ihn der Berggeist schon erwartete.
Diesmal suchten sie zuerst die Felsen um den Höhleneingang ab. Der Berggeist zeigte dem Buben ganz bestimmte Steine, legte davon je einen in das Sammelkörbchen und packte die restlichen in seinen Sack. Dann gingen sie wieder durch den schmalen Gang zu der Höhle, die der Bub schon kannte.
Der Berggeist war schweigsam wie immer, doch der Bub wusste zu jeder Zeit, was er sagen wollte und konnte sich an alles
erinnern, was er ihm vermittelte.
Als die beiden vor dem großen Feuerplatz standen, kamen auf einen Wink des Bergeistes die Köhler, warfen Holzkohle nach und entfachten das Feuer mit einem riesigen Blasebalg neu. Es fauchte und zischte, während die Flammen fast bis zur Höhlendecke loderten. Dann schüttete der Berggeist die zuvor gesammelten Steine in die Glut. Wieder das Fauchen und Sausen des Blasebalgs und in der Hitze der Glut begannen die Steinbrocken zu schmelzen. Endlich blieb nur noch eine zähflüssige, hellrot glühende Masse. Da näherte sich der Berggeist mit einem langen Stab. Er stach ihn geschickt dort in die Glut, wo vorher die
Steinbrocken gelegen hatte und das Feuer jetzt am hellsten war. An dem Stab bildete sich ein rot glühender Klumpen, den der Berggeist nun geschickt aus dem Feuer nahm. Wie eine Flöte setzte er den Stab an den Mund und blies vorsichtig hinein. Der glühende Klumpen begann zu wachsen und wölbte sich zuerst zu einer kleinen Kugel. Je mehr der Bärtige blies, umso größer wurde die Kugel. Dann nahm er ein paar Hölzer und mit deren Hilfe formte er ein Gefäß daraus. Nach einiger Zeit konnte er mit wenigen geschickten Handgriffen das Gefäß von dem Stab trennen. Jetzt stellte er es in eine der vielen Wandnischen zum Abkühlen. Das Gefäß war durchsichtig und von einfacher Schönheit.
Der Knabe staunte über das Wunder, das er eben erlebt hatte. Viele Fragen hatte er noch in seinem Herzen, die er dem Berggeist stellen wollte. Doch dann wurde ihm schwindlig von der Hitze und er fiel in eine tiefe Ohnmacht.
Am späten Nachmittag erwachte der Junge in der Nähe der elterlichen Hütte. Sein Korb war gefüllt mit köstlichen Pilzen, aber darunter lagen ein paar seltsame Steine. Einer davon war klar und durchsichtig wie Wasser.
Da fiel dem Knaben wieder ein, was er in den vergangenen Tagen erlebt hatte. Er konnte aber seltsamerweise mit niemandem darüber sprechen. Also machte er sich erneut zu dem
Eingang der Höhle auf den Weg. Soviel er aber auch suchte, er konnte ihn nicht mehr wiederfinden. Doch die Bilder in seinem Innern ließen ihn nicht mehr los.
Als er erwachsen war, verließ er das enge Tal. Er suchte und fand überall die Steine, die er brauchte, und mit Hilfe des Wissens, das ihm der Berggeist vermittelt hatte, konnte er bald die Steine schmelzen und zu Glas verarbeiten und die erste Glashütte im Wald errichten.
©HeiO 03-2010