Doris und Sabine
Sabine fühlte sich nicht richtig wohl, irgendwie war sie nicht sie selbst. Das heißt, eigentlich doch, allerdings wurde sie von allen anderen nicht geachtet und oft sogar verlacht. Und alles nur weil Sabine sich ein bisschen als Mann und doch auch ein bisschen als Frau fühlte. Sie hatte zwar schon oft von transidenten Menschen gehört, die im falschen Körper gefangen waren, und sie hatte auch schon sehr viel darüber gelesen. Gerade gestern hatte sie in der Zeitung einen Artikel
gelesen von einem Treffpunkt für transidente Menschen und alle die sich für dieses Thema interessierten. Irgendwie hatte Sabine aber
auch Angst dorthin zu gehen. Würde sie denn sich mit den Menschen dort verstehen?
Würde sie es verkraften können, wenn sich herausstellen sollte, dass sie selbst auch transident ist? Sie hatte schon oft von Schwulen und Lesben gelesen die nach ihrem Coming Out sehr große Probleme mit sich selbst bekamen und ihr eigenes Coming Out teilweise gar nicht verkraften konnten. Ja, so manche Schwulen und Lesben brachten sich nach ihrem Coming out sogar um. Und Sabine wollte sich nicht umbringen. Ja, sie hatte große Schwierigkeiten und Ja sie war anders, als die meisten anderen Menschen, aber sich deshalb umbringen? NEIN! Sonst würde wahrscheinlich auf ihrem Grabstein
stehen: „Hier liegt Sabine, ihr Leben hat allen gefallen, nur ihr selbst nicht“ So weit durfte es auf keinen Fall kommen. Es musste eine andere Lösung geben, nur welche? Da fiel ihr Doris ein. Eine gute, nein eine sehr gute, Freundin. Mit ihr konnte sie über alles sprechen, und auch wenn es noch so abwegig und verzwickt war. Doris verstand es. Möglicherweise lag das daran, dass auch Doris eine Art Grenzgängerin war, allerdings nicht wie sie selbst, eine Grenzgängerin zwischen den Geschlechtern, nein, Doris war eine Grenzgängerin zwischen dem was man so als normalem Menschen bezeichnete und einer Wicca. Als Sabine Doris kennenlernte, wusste sie noch gar nicht was eine Wicca ist, Doris erklärte es ihr. Eine Wicca ist im
Grunde genommen so etwas wie eine moderne Hexe. Allerdings darf man das Wicca von heute nur sehr bedingt mit den Hexen aus dem Mittelalter vergleichen. Doris wusste sehr viel über Kräuter. Egal welche Krankheit Sabine gerade plagte, ein Anruf bei Doris reichte, und sie wusste aus welchen Kräutern sie sich einen Tee machen musste. Da die beiden nicht sehr weit auseinander wohnten, besuchten sie sich auch des Öfteren und sie hatten immer sehr viel Spaß dabei. Doris störte es auch überhaupt nicht dass Sabine ein bisschen Mann und ein bisschen Frau war, und Sabine störte es auch nicht, dass Doris ein bisschen Hexe war, aber irgendwie doch auch nicht so ganz.
Sabine rief Doris an und sagte ihr, dass sie
sie unbedingt sofort sprechen müsse. Doris war schon ein wenig irritiert als Sabine anrief, immerhin war es gerade einmal halb 4 in der Nacht und was konnte es schon so dringendes geben, dass Sabine sie mitten in der Nacht aus dem Schlaf klingeln musste.
Da sie aber Sabine sehr mochte, versuchte sie so schnell wie möglich zumindest einigermaßen wach zu werden. Da halb 4 nun wirklich keine Uhrzeit war, zu der Doris normalerweise aufstand brauchte es 4 Tassen Kaffee und einen halben Liter einer anderen koffeinhaltigen Flüssigkeit.
Danach war sie zumindest in einem Zustand, in dem sie sich traute Auto zu fahren. Doris ging zu ihrem kleinen blauen Auto und startete.
Oh nein, was war denn das? Das Auto wollte nicht starten. Und sie wusste wie ungeduldig Sabine war wenn sie auf etwas wartete. Bestimmt lief sie schon wie ein Tiger in der Wohnung auf und ab. Doris hatte großes Glück, denn da sah sie, dass von weiter hinten auf der Straße gerade ein Pannendienstfahrzeug angefahren kam. Schnell machte sich Doris bemerkbar und das Pannendienstauto hielt auch direkt bei Doris. Zum Glück hatte der Mitarbeiter des Pannendienstes gerade keine weiteren Aufträge und das Problem an Doris Auto war schnell gelöst, da es sich lediglich um eine leere Batterie handelte. Als der Pannendienstmitarbeiter ihr das sagte wusste
Doris auch wieder warum. Sie hatte gestern nach dem Aussteigen wohl irgendwie vergessen das Radio auszumachen, und da sie außerdem noch vergessen hatte das Licht auszumachen war die Batterie natürlich inzwischen leer. Der Pannendienstmitarbeiter war sehr nett und er merkte sofort, dass Doris irgendwie anders war als andere. Und er spürte auch dass Doris es sehr eilig hatte zu einer Freundin zu kommen. Nachdem er dies gesagt hatte, und Doris dies bestätige war ihm klar, dass Doris, genau wie er, eine Wicca sein musste. Als Wicca erkannte man sich einfach untereinander, selbst dann wenn man nur eine Art halbe Wicca war. Jetzt fiel dem Pannendienstmitarbeiter auch das T-Shirt auf das Doris trug. Da war eine Hexe die
ein Pentagramm Zeichen an einer Stange festhielt und unter dieser Hexe stand: „Hexen sind immer gut, böse Hexen gibt es nicht“
Da der Pannendienstmitarbeiter immer noch keinen neuen Auftrag erhalten hatte, was um diese Uhrzeit nicht so außergewöhnlich war, kamen sie ins Gespräch. Und bald schon erzählte Doris auch von Sabine, von der sie, als eine der wenigen, wusste, dass sie irgendwie nicht so richtig Frau, aber auch nicht so richtig Mann war.
Der Pannendienstmitarbeiter fragte ob er mit zu Sabine kommen dürfte. Er hätte da vielleicht eine Idee, und Doris antwortete: „Ja, komm ruhig mit, wenn wir dort sind rede ich
mal kurz alleine mit ihr, dann sehen wir weiter“
Jetzt, da das Auto von Doris wieder fuhr, fuhr sie mit ihrem schönen blauen Auto voraus und das Pannendienstfahrzeug immer hinter Doris her.
Nach einer guten halben Stunde waren sie bei Sabine angekommen. Sabine saß schon auf der Treppe vor dem Hauseingang und heulte. Doris nahm Sabine erst einmal in den Arm und fragte: Warum heulst Du?“ Sabine sagte: „Ach, Du hast so lange gebraucht, da habe ich gedacht Du magst mich nicht mehr und kommst nicht mehr. Und jetzt wo ich sehe, dass da auch noch ein Mann
mitgekommen ist ist mir ja alles klar. Dann wünsche ich Euch beiden mal viel Spaß in Eurem Leben“ Sabine bekam fast einen Nervenzusammenbruch. Sie konnte es sich nicht vorstellen dass es für das erscheinen dieses Mannes eine andere Erklärung geben könnte, als die dass sich Doris in diesen Typen verliebt hatte. Und klar, das verstand auch Sabine, wenn sich Doris verliebt hatte, dann konnte sie keine Zeit mehr für sie haben.
Doris versuchte Sabine zu erklären, dass das alles ganz anders war als sie dachte, doch Sabine konnte oder wollte es nicht hören. Sie glaube ganz fest daran, dass die Zeit ihrer Freundschaft mit Doris vorbei sei. Da kam
der Mann hinzu und versuchte es auch noch einmal Sabine zu erklären, dass sein Erscheinen überhaupt nichts mit Verliebtheit zu tun hätte, sondern dass er lediglich das Auto von Doris wieder zum Laufen gebracht hatte weil es nicht anspringen wollte, und dass das auch der Grund für die Verspätung war.
Noch zweifelte Sabine etwas, doch mit der Zeit fing sie an dem Pannendienstmitarbeiter und Doris dann doch zu glauben, dass die Verspätung wirklich nur aufgrund dessen passiert war, dass das Auto von Doris nicht hatte anspringen wollen.
Sabine fasste immer mehr Vertrauen in den Pannendienstmitarbeiter und bald fing sie
selbst davon an zu erzählen, dass sie sich durchaus als Frau fühlte, aber irgendwie doch auch ein bisschen Mann in ihr wäre. Sie rechnete schon wieder damit Sätze zu hören wie „Reiss Dich zusammen“ oder „Hör auf mit diesem Mist“ „So etwas gibt es nicht“ oder ähnliches, aber nein, ganz im Gegenteil, dieser Pannendienstmitarbeiter schien so viel Verständnis für si zu haben wie noch nie ein Mensch zuvor, wenn man einmal von Doris absah.
Er sprach mit Sabine über alle ihre Sorgen, Nöte und Ängste, und es schien geradezu so als wäre es das erste Mal dass irgendjemand so richtig versuchte sie zu verstehen.
Nachdem sie einige Zeit miteinander
gesprochen hatten sagte der Pannendienstmann:
„Ich habe eine Idee“ Und Doris und Sabine antworteten wie aus einem Munde. „Welche?“ und waren sehr neugierig. Der Pannendienstmann sagte ihnen, dass er eine Gruppe kennt, in der sich Menschen treffen, die alle irgendwie auf die eine oder andere Art Anders sind. Es sind nicht alles Grenzgänger, aber doch sehr viele, und der Rest sind eben auch Menschen die irgendwie anders sind als die Gesellschaft es üblicherweise von ihnen erwartete.“ Doris und Sabine hörten sehr interessiert zu und da fragte der Mann: „Wollt ihr einfach einmal mitkommen in diese Gruppe? Selbst wenn ihr
da nicht reinpassen solltet, das macht gar nichts, sie steht auch allen interessierten Menschen offen, da sie auch dazu dienen soll, Vorurteile abzubauen gegenüber Menschen die Grenzgänger sind, oder Menschen die einfach anders sind als die anderen.“
Doris und Sabine waren begeistert, und als der Mann sagte, dass das nächste Treffen in 2 Wochen stattfinden würde, und er sie gerne abholen würde, da sagten Doris und Sabine sofort zu, dass sie mitkommen würden. 2 Wochen waren für Doris kein Problem. Für Sabine hingegen schon. 2 Wochen waren für Sabines Ungeduld eine sehr, sehr lange Zeit. Und je näher der Termin rückte umso
langsamer schien die Zeit zu vergehen. Sabine war kaum noch in der Lage ihrer täglichen Arbeit nachzugehen. Sie dachte nur noch an diesen Termin. Würde sie dort vielleicht auch Menschen treffen die so waren wie sie? Und selbst wenn nicht, da die Menschen, die zu diesem Treffen kamen ja offensichtlich alle anders waren, als die die man üblicherweise als normal bezeichnet, rechnete sie sich einfach mehr Chancen aus endlich eine Gruppe gefunden zu haben in der sie so akzeptiert wurde wir sie eben war. Sie wollte und konnte sich nicht verbiegen für die Gesellschaft, nur weil sie nicht dem entsprach was man so von ihr erwartete. Nein, das ging gar nicht. Sie war eben Sabine und wer sie nicht mit all ihren Macken so
mochte wie sie eben war, der konnte ihr gestohlen bleiben. Doris konnte es doch auch, und der Pannendienstmann konnte es offensichtlich auch, warum also konnten es so viele andere Menschen nicht? Dafür konnte es nur eine Lösung geben, es lag nicht an ihr, sondern es lag an den anderen.
Wie der Tag dann endlich gekommen war war Doris wieder zu Sabine gefahren und der Pannendienstmitarbeiter klingelte. Und er musste erst einmal pfeifen. Zwei solche Schönheiten hatte er schon lange nicht mehr gesehen, und er sah auf der Straße viele Schönheiten. So manche Frau zog sich den Rock extra noch etwas höher wenn sie die Kühlerhaube geöffnet hatte, in der Hoffnung noch schneller Hilfe zu bekommen. Doch bei
Doris und Sabine war das heute anders. Sie hatten keine extra kurzen Röcke an, sie waren einfach nur sehr schick gekleidet. Aber eben so schick dass der Pannendienstmitarbeiter sich diesmal fast wirklich verliebte und das auch noch in beide. Zum Glück riss er sich zusammen und sie fuhren zu dritt mit Doris Auto zu dem Treffpunkt von dem er erzählt hatte.
Als sie dort angekommen waren, bekamen sie doch wieder ein bisschen Angst, denn es war eins ehr altes, fast schon verfallenes, Fachwerkhaus in einer sehr einsamen Gegend. Ja, irgendwie könnte das Haus gut als Drehort für irgendeinen Horrorfilm dienen. Als der Mann merkte, dass Doris und Sabine Angst bekommen hatten lachte er nur und
sagte: „Na, jetzt aber, so wenig wie die anderen Menschen vor Euch Angst haben müssen, genauso wenig müsst ihr Angst vor diesem Haus oder den Menschen in diesem Treffpunkt haben.
Sie gingen eine Treppe hoch, die bei jedem Schritt so laut knarzte, dass man sich an Geisterstimmen erinnert fühlte. Oben angekommen öffneten sie die Türe und sie sahen einige Menschen in allerlei verschiedenen Sesseln und auf allerlei verschiedenen Stühlen sitzen und alle sahen irgendwie anders aus als das was die Gesellschaft so üblicherweise als in die Gesellschaft passend bezeichnete.
Der Pannendienstmann erzählte warum
Sabine und Doris hier waren und welche Art Grenzgänger die beiden waren und er machte den Vorschlag, dass die anderen, sofern sie es denn wollten, auch kurz erzählten, warum sie Grenzgänger sind, oder warum sie anders sind als andere.
Da fing der dunkelhäutige Mann hintern rechts zu erzählen an: „Ich bin Yusuf und ich kam mit 15 Jahren aus der Türkei nach Deutschland, und ich fühle mich weder in der Türkei noch in Deutschland zuhause“ Danach redete eine Frau die die ganze Zeit ganz still in der Ecke gesessen und einen kleinen Ball in ihrer Hand gedreht hatte Sie sagte: „Ich habe Asperger, aber nur so wenig, dass mir
niemand eine offizielle Diagnose geben will, die Probleme die man als Asperger hat habe ich aber auch.“
Dann meldete sich ein Mann der nur 2 kurze Ärmchen hat und bei dem Mann sofort erkannte dass er eine schwere Behinderung hat. Dieser Mann sagte: „Auch wenn ich kürzere Arme habe als alle anderen, ich kann alles machen, ich mache das meiste eben mit den Füssen, doch statt dass man das anerkennt und vielleicht sogar bewundert werde ich ausgelacht“
Und zum Schluss sprach noch ein Musiker, der sagte: „Ich bin auch anders als die anderen, aber für mich ist das wichtig, denn
wenn ich so wäre wie alle anderen, würde mir die Inspiration zum Komponieren neuer Stücke fehlen.
Da fragte der Pannendienstmann: „Na wie gefällt es Euch hier?“
Doris und Sabine antworteten: „Bis jetzt sehr gut, wir fragen uns nur warum die Menschen, die sich selbst als normal bezeichnen selbst gar nicht merken was sie verpassen. Wir finden jeder Mensch sollte so akzeptiert werden wie er ist, und ich glaube wir haben hier eine Gruppe gefunden in der das auch so ist.
Der Pannenndienstmann lachte und sagte: "Genau, so ist es“ und nach dem Ende des
Treffens fuhren sie wieder nach Hause und Doris und Sabine wussten, dass sie in Zukunft keines dieser Treffen mehr verpassen wollten, und sie bemitleideten die Menschen, die das verpassten – nur weil sie sich selbst als normal bezeichneten, obwohl sie das ja gar nicht waren, wenn hier irgendjemand normal war, dann die Menschen aus der Gruppe, denn Menschlichkeit und Akzeptanz jedes einzelnen sollte das höchste Gut der Menschen sein…