Die Sache mit dem haare waschen
Es war ein sonniger Nachmittag und meine Kinder waren beide zufrieden zu einem Mittagsschläfchen eingeschlafen. Sehr zu meinen Freuden. Endlich ein wenig Zeit mich.
Fix und fertig ließ ich mich vor den Fernseher plumpsen, das Geschirr und alles andere liegen lassend, das nahm mir sowieso niemand ab, ob ich nun wollte oder nicht. Aber diese Zeit, wenn beide Kinder friedlich schliefen, musste ich
einfach nutzen. Meistens schlief ich dabei selbst ein vor Erschöpfung. Doch nicht so an diesem Tag!
An diesem Tag spielte es wieder einmal Raumschiff Enterprise, The Next Generation! Meine Lieblingsserie! Das Timing stimmte, die Umstände passten, also ran an die Gelegenheit.
Als ich den Fernseher einschaltete, war Jean-Luc Picard mit seiner Crew schon mitten im Geschehen, doch das verdross mich nicht, ich hatte diese Folge sowieso schon einmal gesehen. Aber ich konnte sie alle endlich wieder in Action erleben, und so genau erinnerte ich mich auch wieder nicht.
Gegen Ende der Episode kam mein Sohn, ich glaube er war damals vier oder fünf Jahre alt, schlaftrunken aus dem Kinderzimmer. Mein Gott, es waren doch nur mehr zehn Minuten! Die wollte ich auch noch fertig schauen, selbst wenn er mit sah. Das wird ihm schon nicht zu viel sein. Es war sowieso eine Folge in der fast nur gesprochen wurde und sich das meiste auf der Brücke abspielte. Also schob ich mein schlechtes Gewissen, meinen Sohn etwas sehen zulassen, was nicht für ihn bestimmt war, auf die Seite, und schaute noch fertig.
Der Kleine hatte momentan auch keine
Wünsche, er setzte sich auf den Boden und begann mit seinem Zug zu spielen. Sehr gut. Ich konnte die Serie somit bis zum Ende ansehen.
Ich merkte nur wie mein Sohn, während die Sendung noch lief, doch immer wieder gebannt auf den Bildschirm starrte. Natürlich. Fernsehen war ja so was Tolles. Und Raumschiffe erst. Er machte im Hintergrund mittlerweile „brumm-brumm“ Geräusche und mit dem Zug in seiner Hand riskante Flugmanöver.
Ja, Jean-Luc Picard war cool – so ähnlich plapperte mein Sohn vor sich hin. Er
wollte auch einmal Raumschiffkapitän werden. Mindestens. Und natürlich die nächste Folge sehen, mit Jean-Luc Picard.
„Das war eine Ausnahme“, sprach ich damals und zog mich damit mehr oder weniger aus der Affäre. „Ihr dürft eure Kindersendungen sehen.“ Eine am Tag war erlaubt, mehr nicht.
Ich hatte Glück, mein Sohn widersetzte sich nicht, er flog weiterhin mit seinem Zug durch die Gegend und spielte Jean-Luc Picard.
Das Ganze wäre jetzt gar nicht so schlimm gewesen. Doch es gab ein
Problem zwischen uns – also zwischen Mutter und Kind. Und dieses Problem war die Abneigung des kleinen Mannes, sich die Haare waschen zu lassen.
Es war bei uns wirklich wie man es in den Zeichentrickfilmen immer sah. Zum Beispiel bei Micky und Pluto oder Spongebob und Garry. Wenn es um Körperpflege ging, waren die Haustiere, oder in meinem Fall die Kinder, einem immer über.
Genau so kam ich mir vor. Wie eine hilflose Zeichentrickfigur. Es ging bei meinem Sohn zwar nicht um das Baden, aber beim Kopfwaschen widersetzte er
sich erfolgreich. Es war immer nur mit Zwang möglich, wenn überhaupt, und damit wurde die Tortur jedes Mal schlimmer.
Und ich war hilflos.
Keiner der guten Ratschläge sämtlicher Freunde, erfolgreicher Eltern oder Nachschlagewerken war erfolgreich, und ich überlegte wirklich schon mein Kind kopfseitig einfach stinken zu lassen. Das wäre wenigstens eine Schonung meiner und seiner Nerven gewesen.
Doch nicht so an diesem Tag, da kam mir eine rettende Idee, oder sagen wir lieber,
der Verzweiflung tausendster Akt.
Der Kleine saß wieder einmal in der Badewanne, heute mit seinem fliegenden Zug versteht sich, und ließ sich anstandslos baden. Danach jedoch wurden seine Augen schmal, er witterte schon worum es ging, als ich das Kopfshampoo herausholte.
Ich sah an seinen zuckenden und zum Schreien bereiten Mundwinkeln, wie sich das ganze Drama wieder abspielen würde. Doch dazu ließ ich es gar nicht erst kommen.
Ich tat so als wäre ich einfach gedankenverloren und seifte meine Hände mit dem Shampoo ein. Dabei
sprach ich: „Kannst du dich noch an Jean-Luc Picard erinnern?“
Erstauntes Kopfnicken meines Sohnes.
Ich wurde sicherer. „Weißt du, der hat sich auch nie die Haare waschen wollen, deshalb sind sie ihm alle ausgefallen.“
Der Kleine saß mit offenem Mund vor mir. Ich glaube ich hätte mit ihm jetzt alles machen können, so erstaunt war er. Vielleicht hätte wirklich immer nur eine überzeugt dargebrachte Geschichte von mir geholfen ihn abzulenken, um ihm die Haare zu waschen. Damals dachte ich aber nicht soweit, ich war nur froh, dass es geklappt hatte. Er ließ sich anstandslos den Kopf reinigen und
erschien eigentlich den ganzen Abend über noch nachdenklich. Wenn man das von einem kleinen Kind so überhaupt sagen konnte.
Seit diesem Vorfall hatte ich mit ihm keine Mühen mehr beim Kopfwaschen und so vergaß ich die ganze Geschichte.
Bis zu einem grauen Morgen, an dem ich mit meinen Kindern zu meiner Mutter fuhr.
Es war ein Werktag, die Straßen überfüllt, und wir schafften es gerade noch in den Bus.
Zu meiner Mutter war es nicht weit, eine Station um genau zu sein, und so blieben wir gleich bei der Türe stehen. In einem Arm hatte ich meine Tochter, mit der anderen Hand schaute ich, dass sich mein Sohn gut festhielt.
Dann war es so weit, die Türen gingen zu und die Bereitschaft zur Türöffnung erlosch. Der Bus fuhr aber nur ein kleines Stück an und blieb wieder stehen, da die Ampel rot zeigte.
Gedankenverloren sann ich vor mich hin, als mich plötzlich die laute und ungenierte Stimme meines Sohnes aus
meinen Träumen holte.
„Du, Mama? Sieh nur den Mann da draußen …“
Pflichtschuldigst und nichtsahnend schenkte ich ihm meine Aufmerksamkeit, und so auch der ganze Bus, der augenblicklich die Hallfunktion eines Auditoriums zu haben schien.
Seine kleine, knuffige Hand war ausgestreckt und sein Zeigefinger wies mit der Präzision eines Scharfschützen auf einen jüngeren Mann, mit einer extrem blanken, auffälligen Glatze, der neu zur Haltestelle hinzugekommen sein musste, und uns durch die Türe hindurch
ansah.
Bevor ich noch irgendwie reagieren konnte, posaunte mein Sohn jedoch schon lautstark und völlig zufrieden mit sich weiter: „… dem ist es wie Jean-Luc Picard gegangen. Der hat sich auch nie die Haare waschen wollen, deshalb sind sie ihm alle ausgefallen.“
Warum kann man nicht flüchten, oder versinken, wenn man es am Nötigsten brauchen würde?
Es war eine so hallende Stille im gesamten Bus, dass man sogar die Frau in der ersten Reihe noch unruhig auf
ihrem Sessel hin und her rutschen hören konnte.
Ich weiß nicht mehr ob damals irgendwer lachte oder nicht, zu hören war jedenfalls nichts, im Bus war es mucksmäuschenstill. Die pure Peinlichkeit.
Und ich glaube ich sagte auch nichts, mir hatte es die Sprache verschlagen, ich war zu verlegen für irgendeine Reaktion. Doch das schien mein Kind zum Glück nicht zu stören, seine Aufmerksamkeit richtete sich völlig unbedarfter Weise einfach auf etwas anderes.
Als der Bus endlich anfuhr, sah man in
ihm nur zwei zufriedene Kinder, ob der lauten Kinderstimme jetzt auch nicht mehr ganz so müde Werkstätige, die sich langsam wieder aus ihrer Starre lösten, und eine krebsrote Mutter, die sich schwor, nie mehr im Leben ihren Kindern etwas so Lächerliches und Unwahres zu erzählen, egal wie hilflos sie jemals wieder sein würde.
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